Frederick Neuhouser: „Soziale Freiheit liegt in einem nichtentfremdeten Leben“
Wann werden Institutionen von Garanten der Freiheit zur unzumutbaren Einschränkung? Im Gespräch erläutert Frederick Neuhouser Hegels Sozialtheorie und erklärt, woran sich eine rationale Gesellschaftsordnung erkennen lässt.
Herr Neuhouser, Hegels Werk mit dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts legt nahe, dass er sich darin mit Fragen des Rechts oder der Ethik beschäftigt. Sie aber lesen es als ein Werk der Gesellschaftstheorie. Warum?
Der Begriff des Rechts ist bei Hegel sehr weit gefasst und bezeichnet jede Einrichtung, die unsere Freiheit verwirklicht. Dabei interessiert sich Hegel insbesondere für eine Art von Freiheit, die im sozialen Leben selbst verwirklicht wird. Ich verwende für diese Freiheit den Begriff der sozialen Freiheit. Wir gewinnen sie, wenn wir auf die richtige Weise in der Familie, in der Zivilgesellschaft und im Staat mitwirken.
Neben der sozialen Freiheit betrachtet Hegel auch andere Arten von Freiheit. Er entwirft eine komplexe Typologie.
Was Hegel so interessant macht, ist, dass er nicht einfach nur auf der Seite der negativen oder positiven Freiheit, des Kommunitarismus oder des Liberalismus steht. Er sieht, dass wir in Westeuropa bestimmte Institutionen zur Verwirklichung von Freiheit geschaffen und geerbt haben, die – zumindest für Hegel – drei verschiedene Formen von Freiheit beinhalten. Er will zeigen, dass die moderne soziale Welt eine ist, die alle drei unterbringen und auf konsistente Weise zusammenfügen kann. Die erste ist die persönliche oder liberale Freiheit. Sie beruht auf einer Reihe von Rechten – darunter das Eigentumsrecht –, die es dem Einzelnen erlauben, so zu handeln, wie er es für richtig hält. Die zweite Auffassung von Freiheit ließe sich auch Autonomie nennen und geht auf Luther, Rousseau und Kant zurück: Sie besagt, dass man frei ist, wenn man in der Welt in Übereinstimmung mit seinem eigenen Verständnis von dem, was gut und richtig ist, handelt. Die dritte Freiheit, die soziale Freiheit, ist am schwierigsten zu beschreiben. Sie erlangt man durch die Teilhabe an sozialen Institutionen, deren Hauptfunktion darin besteht, das Leben zu reproduzieren – sowohl das materielle Leben als auch das intellektuelle oder spirituelle Leben.
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