Hans Jörg Sandkühler: „Zum Philosophieren im Nationalsozialismus gehörte eine gewisse Schizophrenie“
Das von Joachim Ritter geleitete Collegium Philosophicum war ein Zentrum deutscher Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Ritter-Schüler Hans Jörg Sandkühler sprachen wir im Rahmen der Vortragsreihe „Münsteraner Philosophie im Nationalsozialismus“ über Joachim Ritters nachhaltigen Einfluss und den unbehandelten Umgang mit seiner NS-Vergangenheit.
Herr Sandkühler, in diesem Jahr gedenken wir Joachim Ritters 50. Todestag. Wofür stand seine Philosophie?
Ob Joachim Ritter eine bestimmte Philosophie zuzuschreiben ist, halte ich für fraglich. Er war in erster Linie philosophischer Lehrer für zumindest zwei Generationen von Studierenden. Gelehrt hat er vor allem Aristoteles´ Ethik und Politik und Hegels Philosophie, voran seine Rechtsphilosophie, und in systematischer Absicht Ästhetik, Hermeneutik und Begriffsgeschichte. Im Zentrum seines Interesses standen eine Theorie der Moderne, d.h. der modernen bürgerlichen Gesellschaft: Die Moderne ist konstituiert durch Entzweiung, deren Merkmale das abstrakte Recht, industrialisierte Arbeit, neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik sind, und dies sind Merkmale des Bruchs mit tradierten Lebensordnungen und Weltbildern. Den Verlust der geschichtlichen Herkunft kompensiert diese Moderne durch die hermeneutischen historischen Geisteswissenschaften. Er verfolgte das Ziel einer Wiederbegründung der praktischen Philosophie in aristotelischer Perspektive und im Horizont der liberal interpretierten Hegelschen Theorie. Dabei wollte Ritter nicht Normen von Ethik, Recht und Politik begründen, sondern setzte als Hermeneutik der gewordenen geschichtlichen Welt auf die enge Bindung der von ihm strikt verteidigten Subjektivität an die Institutionen von Politik, Recht und Staat, die vor der „sich verhausenden Subjektivität“ und vor Willkür in Recht und Politik schützen. Diese Institutionen sah Ritter in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland verwirklicht. Insofern war seine Philosophie der rechtsstaatlichen Institutionen die Philosophie der Bundesrepublik, dies freilich im Horizont einer Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die Ritters Denken durchzieht – von seinen marxistischen-kommunistischen Anfängen in den 1920er Jahren bis zu seinem späten Philosophieren. Kein Zufall, dass Ritter sich bei der Gründung neuer Institutionen – wie bspw. der Universität Bochum – engagiert hat.
Das von Ritter geleitete Collegium Philosophicum an der Universität Münster war neben der Frankfurter Schule Zentrum deutscher Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Denker wie Hermann Lübbe, Odo Marquard, Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Robert Spaemann zählten zu seinen Mitgliedern. Auch Sie waren Teil dieses erlesenen Kreises. Das Denken des Kreises um Ritter wurde vielfach als „neokonservativ“, „wertkonservativ“ oder „modernitätskonservativ“ beschrieben. Würden Sie diesen Bezeichnungen zustimmen?
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