Jens Söring – Der Freie
Jens Söring war 33 Jahre in den USA inhaftiert. Die Anklage lautete Doppelmord. Nun ist er nach Deutschland zurückgekehrt – ohne Freispruch. Porträt eines Mannes, dessen Intellektualität in einer irritierenden Spannung steht zu der Tat, die man ihm anlastet. Lässt sie sich auflösen?
„Der Existenzialismus hat mich ins Gefängnis gebracht.“ Mit diesem Satz beginnt Jens Söring unser Gespräch an diesem Vormittag. Draußen scheint die Sonne von einem wolkenlosen Kölner Himmel. Hier, in der Bar des Hotel Savoy, ist das Licht gedämmt. Noch ist die Bar leer, für einen Drink ist es viel zu früh, Söring sitzt mit geradem Rücken auf einem samtenen Sofa, vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Wasser, das ihm eine freundliche Kellnerin gebracht hat. Hinter ihm an der Wand: die Fotocollage einer schönen Frau mit langbewimperten Augen.
Bis vor Kurzem ist seine Welt noch eine andere gewesen. 33 Jahre war er in den USA inhaftiert. Vom 30. April 1986 bis zum 25. November 2019 musste er ständig auf der Hut sein, um nicht vergewaltigt oder verprügelt zu werden. Mit 19 Jahren kam er ins Gefängnis, im Alter von 53 Jahren kehrte er als freier Mann nach Deutschland zurück, ohne dass er von seiner Schuld freigesprochen worden wäre. Verurteilt wurde er wegen Doppelmordes an den Eltern seiner damaligen Freundin. Derek und Nancy Haysom wurden in ihrem Haus auf brutale Weise getötet und beinahe enthauptet. Jens Söring nimmt einen Schluck Wasser, rückt seine Brille zurecht. Das Modell ist um einiges zierlicher als jenes, das er trug, als er seine Freiheit verlor. Auch sein Gesicht ist heute feiner, schmaler; natürlich auch faltiger. Auf den Bildern, die ihn als jungen Mann während des Prozesses zeigen, hat Söring fast etwas Pausbäckiges. Vielleicht auch Trotziges?
„Als 16-Jähriger war ich begeistert von Albert Camus, habe ihn auf Französisch gelesen, was in Amerika eher ungewöhnlich ist“, erinnert er sich. Wer Söring zuhört, merkt schnell, dass hier ein Mensch erzählt, der außergewöhnlich belesen ist, mit Sprache umzugehen weiß und sich fast ein wenig dafür schämt. Vor allem Der Fremde habe es ihm angetan. Camus’ Roman erzählt die Geschichte eines gefühlskalten Mannes namens Meursault. Meursault sitzt wegen Mordes in der Todeszelle und wartet auf seine Hinrichtung durch die Guillotine. Trost durch einen Geistlichen lehnt er wütend ab; doch ganz am Ende öffnet er sich der „zärtliche(n) Gleichgültigkeit der Welt“. Söring konnte nicht ahnen, wie nah er selbst dieser Romanfigur kommen und wie wichtig, ja überlebensnotwendig die existenzielle Grundfrage Camus’, ob Sinn in einer absurden Welt möglich sei, für ihn noch werden sollte.
Schicksalhafte Begegnung
„Dann hatte meine Schule mich vorgeschlagen für ein Begabtenstipendium an der University of Virginia“, so Söring weiter, „und zufällig ging es in dem Prüfungsverfahren um die Existenzialisten. So habe ich das Stipendium bekommen. Hätte ich es nicht bekommen, wäre ich nie an der University of Virginia gewesen. Und ich hätte nie Elizabeth Haysom kennengelernt.“ Elizabeth Haysom. Ohne sie säße er jetzt nicht hier, in diesem Hotel, und würde von Jahrzehnten in US-Gefängnissen erzählen. Haysom ist Sörings Schicksalsfrau. Um nicht zu sagen: seine Femme fatale. Ein Ausdruck, in dem so viel Klischee und Faszination mitschwingt, dass die Aufmerksamkeit, die der Fall Söring auf sich gezogen hat, kaum verwundern kann.
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