Lea Ypi: „Der Kapitalismus verstößt gegen das kantische Prinzip“
Ist die Verwirklichung von Freiheit eine Sache des Einzelnen oder der Gesellschaft? Die Philosophin Lea Ypi betont, dass es auch in unterdrückenden Verhältnissen eine unveräußerliche Verantwortung des Menschen gibt. Dennoch muss die Gesellschaft so reformiert werden, dass sich unser moralisches Potenzial entfalten kann.
Frau Ypi, welche Rolle hat Kant in Ihrem Leben gespielt?
Ich bin mit einer sehr kantischen Großmutter aufgewachsen. Sie wusste zwar nichts über Kant, aber sie hatte eine Moralvorstellung, die viele Elemente enthielt, die ich später in Kants Philosophie wiederfand: besonders die Idee von Gott und Religion sowie die Frage, wie man über die Beziehung zwischen Glaube und Moral denkt. Wenn ich sie fragte, ob sie an Gott glaubt, antwortete sie: „Gott ist mein Gewissen.“ Grob gesagt ist das auch der Kern der kantischen Moral. Ein anderer wichtiger Punkt für sie war die Rolle der moralischen Vernunft und die Betonung, immer das Richtige zu tun, nicht weil man sich davon etwas Bestimmtes verspricht, sondern einfach, weil es das Richtige ist.
Sie haben eine Autobiografie mit dem Titel „Frei“ geschrieben. Auch in Ihren akademischen Studien beschäftigen Sie sich immer wieder mit dem Konzept der Freiheit und versuchen es mit Kant zu denken. Was versteht Kant unter Freiheit?
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