Lorraine Daston: „Zeiten des Experimentierens führen zu mehr Regeln“
Sie ordnen unser Leben und dennoch denken wir fast nie direkt über sie nach. Im Interview zu ihrem jüngst erschienenen Buch Regeln. Eine kurze Geschichte spricht Lorraine Daston über die Natur von Regeln in ihrer Form von Gesetzen, Riten und Sitten.
Frau Daston, an welche Regeln haben Sie sich heute schon gehalten?
Ich habe mir eine Fahrkarte für die U-Bahn gekauft. Auch einer eher rituellen Regel bin ich gefolgt: Eine Kollegin ist kürzlich verstorben und wir haben eine Karte für ihre Familie vorbereitet.
Das sind ja zwei recht unterschiedliche Phänomene. Was verbindet die beiden Beispiele?
Die Regel für das Ticket in der U-Bahn zu bezahlen ist eine explizite Regel. Sie hat offiziellen Status und es gibt Sanktionen. Im Fall der Trauerkarte handelt es sich um eine implizite Regel. Aber auch sie hat Sanktionen, wenn auch sozialer Art in einem Netzwerk des Respekts. Es handelt sich um eine Bestätigung sozialer Bindungen, und das ist der Zweck vieler impliziter Regeln. Sie bieten ein Skript in ungewöhnlichen Situationen, die Menschen sonst ratlos zurücklassen könnten, wie sie sich verhalten sollen. Es sind also unterschiedliche Arten von Regeln, aber sie folgen einer Struktur, die ähnlich ist: normativ bestimmtes Verhalten vorzuschreiben und Sanktionen vorzusehen, wenn dieses Verhalten nicht eingehalten wird.
Warum brauchen wir überhaupt Regeln?
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