Prigoschin lebt
Jewgeni Prigoschin mag tot sein. Doch sein Mythos ist lebendiger denn je und könnte für Putin gefährlich werden. Wie wirkt sich der Post-mortem-Kult auf das innerrussische Kräfteverhältnis aus?
Bei seiner Beerdigung im kleinen Kreis, ohne Putin und ohne die militärischen Ehren, die seinem Rang als „Held Russlands“ entsprächen, wurden am Grab von Jewgeni Prigoschin einige Verse eines anderen Petersburgers, des Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky, vorgelesen. Das Gedicht mit dem Titel „Stillleben“ endet mit den Worten:
"Wie ich die Schwelle überschreiten werde,
ohne zu verstehen, unentschlossen:
Bist du mein Sohn oder Gott?
Also, tot oder lebendig?
Er sagt als Antwort:
- Tot oder lebendig,
es gibt keinen Unterschied, Frau.
Sohn oder Gott, ich bin dein".
Tot oder lebendig, das ist letztlich egal, bekräftigen die Anhänger des Wagner-Chefs: Selbst wenn Prigoschins Leben sein Ende in der Hölle gefunden hat, sein Mythos ist geboren und wird nicht so bald sterben. Der Mann, der es am 23. Juni wagte, seine Männer auf Moskau zu hetzen, Flugzeuge der russischen Armee abzuschießen und damit eine Panik auf höchster staatlicher Ebene auszulösen, ist mit Sicherheit tot. Zweifellos ist er einem Anschlag zum Opfer gefallen. Dieser wurde höchstwahrscheinlich von Putin in Auftrag gegeben, der sich von der Schmach befreien und all jenen eine warnende Botschaft übermitteln wollte, die es wagen würden, ihn herauszufordern. Die Zusammenhänge lassen sich derzeit jedoch nicht beweisen. Zumindest in näherer Zukunft wird es keine internationale oder unabhängige Untersuchung geben. Der Prozess der Identifizierung der Leichen und die Ermittlung der Absturzursache stehen nach wie vor unter der Kontrolle des russischen Staates, wo die Polizei und die Justiz das Sagen haben. Die Absturzstelle, die sich in der Nähe eines Wohnsitzes von Wladimir Putin befindet, wurde mit einem Bulldozer dem Erdboden gleichgemacht.
Eine mythische Figur
Stellen wir uns ein anderes, wenig glaubhaftes Szenario vor: Wie in dem Film Der dritte Mann (1949) von Carol Reed ist der Mann, den man begraben hat, nicht im Grab. Er wird für tot gehalten, damit er unter einer anderen Identität weit weg von Moskau in Ruhe weiterleben kann. Prigoschin befand sich nicht im Flugzeug. In einem letzten Pakt dachten sich die beiden Petersburger Kumpane Putin und Prigoschin dieses Szenario aus, um den Letzteren am Leben und dem Ersteren dauerhaft seinen autokratischen Frieden zu erhalten. Schließlich war der Wagner-Chef schon längst zu einer Art lebendem Mythos geworden. In seinen jungen Jahren als Krimineller war er ein Meister der Flucht, er bewirtete Staatsoberhäupter, die von Putin ins Restaurant eingeladen wurden, organisierte die Trollfabrik, die die Welt mit Falschmeldungen überschwemmte und destabilisierte Syrien, Libyen und andere afrikanische Länder. Der Sieger von Bachmut spielte immer die Rolle des geheimnisvollen Verschwörers. Er nahm surrealistische Videos auf, in denen er sich in zerstörten Städten oder mitten in der afrikanischen Wüste inszenierte. Er verkleidete sich gerne, trug falsche Bärte und Toupets. Er besaß mehrere gefälschte Pässe. Vielleicht hat er bis heute Doppelgänger. Er schaffte es immer, die Route seiner Flüge im Privatjet zu ändern und nicht die genaue Passagierliste vorzulegen. Seit dem Scheitern seiner Meuterei glaubte man, ihn in Weißrussland, beim Händeschütteln mit einem afrikanischen Würdenträger in St. Petersburg und in verschiedenen afrikanischen Ländern gesehen zu haben. Dass er gemäß Brodskys Gedicht zu einer postmortalen mythische Figur wurde, war nur eine logische Folge der Dinge.
Der ermordete Prinz
Schon vor seinem Tod besaß Prigoschin eine gewisse Popularität in den Kreisen der russischen Gesellschaft, die die Korruption der Staatsmacht durchschauten und den Krieg in der Ukraine schnell beenden wollten. Nun erhält er die Aura einer großen Persönlichkeit der Nationalgeschichte, des jungen Zarewitsch Dmitri, der 1591 im Alter von acht Jahren auf mysteriöse Weise starb. Hatte Boris Godunow, der Regent und spätere Zar, ihn töten lassen, um ihn von seinem Anspruch auf den Thron abzuhalten? So erzählt es Puschkin in seiner Tragödie und Modest Mussorgski in seiner Oper. Ein Teil des Volkes, so sagen die Historiker, glaubte an das Szenario eines politischen Mordes. Falsche Dmitris tauchten in diesen „Zeiten der Unruhe“, vor der Errichtung der Romanow-Dynastie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, auf. Ein gewisser Grischka Otrepiev übernahm sogar kurzzeitig die Macht, indem er behauptete, der ermordete Prinz zu sein.
Für einen Teil seiner Fans wird Prigoschin eine Art Dmitri bleiben und vielleicht glaubt man morgen an sein Wiederauftauchen in Afrika, Syrien oder in der Nähe der Kreml-Mauern. Tot oder lebendig ist er Teil eines beinahe religiösen Mythos geworden. In russischen Städten werden Denkmäler zu Ehren Prigoschins errichtet. Geschichten seiner Wiederauferstehung beginnen in den sozialen Netzwerken und einigen anderen Medien zu zirkulieren. Darunter auch Memes, die ein berühmtes Gemälde von Ilja Repin parodieren, das einen jungen politischen Gefangenen zeigt, der inmitten seiner Familie wieder auftaucht, die ihn für immer verloren glaubte. Der Titel des Gemäldes lautet: „Wir haben nicht mehr auf ihn gewartet“.
Rechts von Putin
Auch wenn Wagners launischer Chef seinen Walkürenritt wahrscheinlich nie erleben wird, zeichnen die Umstände, die sein Verschwinden begleiten, ein Bild der Zukunft, das zweifellos beunruhigend ist. Während die ohnehin schwache demokratische Opposition in Russland ausgeschaltet wird – ihre Anführer sitzen im Gefängnis oder im Exil, die wenigen Demonstranten werden verhaftet –, wird sich die einzige Kraft, die Putin Konkurrenz machen kann, an Prigoschin orientieren: Sie wird noch nationalistischer sein als der Präsident, noch populistischer und noch gewalttätiger. Bekanntlich stützen sich große antidemokratische Bewegungen, wie seinerzeit der Faschismus, auf fantastische Mythen. Der Mythos, der um den Aufstieg und Fall von Jewgeni Prigoschin entsteht, wird vielleicht Teil eines solchen zukünftigen Aufschwungs sein. Das bedeutet zumindest, dass die weitere Entwicklung in Russland kein Zuckerschlecken und Präsident Putin nach seiner Rache nicht unbedingt ruhiger schlafen wird. •
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