Aufstand der Zeichen
Mit den kryptischen Großbuchtstaben V und Z beschwört Putin den Mythos eines siegreichen Russland. Doch die Ukraine hat mit der Kleinschreibung ihres Gegners ein subtiles Mittel gefunden, den Zeichenzauber zu durchbrechen. Eine Analyse mit Jean Baudrillard.
Anmerkung vorweg: „putin“ und „russland“ werden in diesem Text bewusst klein geschrieben.
Anfang März verkündete der Moskauer Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche, dass das traditionsbewusste russland sich in einem „metaphysischen Kampf“ gegen die „Kräfte des Bösen“ befinde: Der Einmarsch in die Ukraine diene dem Schutz der Gläubigen vor „Gay-Pride-Paraden“ und vor der Sünde im Allgemeinen. So absurd diese Rechtfertigungsversuche auch klingen mögen, verweisen sie doch beispielhaft auf die symbolische Kluft zwischen den kulturell-codierten Konstrukten „russland“ und „der Westen“ – und auf die Rolle von mythologischen Erzählungen als Platzhalter eines Bedeutungsverlusts im postsowjetischen russland. Das putin’sche System kann nur mithilfe ausgeklügelter Desinformations- und Propaganda-Kampagnen bestehen und jene innere und äußere Stärke simulieren, die es benötigt, um die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bzw. zumindest zu einer (passiven) Masse zu vereinen.
Kremlideologen wie Vladislav Surkov, von 2013 bis 2020 einer der engsten Berater putins, überführten die synkretistisch vorgehende spätsowjetische Propaganda ins 21. Jahrhundert – und erschufen jene mediale „Simulationsmaschine“, die zum zentralen Kriegstreiber avanciert ist. Danach betrachtet sich der Kreml als sittlicher Gegenentwurf zum „dekadenten“ Westen mit seiner „Genderideologie“ – ein (wieder-) auferstandenes Schein-Imperium, das sich in dem vom Politologen Samuel P. Huntington vorhergesehenen „Kampf der Kulturen“ befindet. putins faschistischer Hausphilosoph Aleksandr Dugin verkündete in einem Pressegespräch Anfang März, der Westen irre mit seinem Glauben an eine globalisierte Welt: „Wir hatten keine andere Möglichkeit zu zeigen, dass Huntington richtig lag, ohne die Ukraine anzugreifen.“
Menschen wie Surkov sind es, die russland unter putins Regie beigebracht haben, Geschichte, Gegenwart und Zukunft als beliebig formbares Material anzusehen, um neue Konstrukte von Wirklichkeit zu erschaffen: Sie bedienen sich verkehrender Medienstrategien verschiedener Schulen – Elemente der stalinistisch-totalitären Logik der „Negation der Negation“ (Boris Groys), in der mehrere sich eigentlich widersprechende Konzepte gleichzeitig wahr sein können, werden genauso integriert wie Versatzstücke des westlichen Postmodernismus, den sie wiederum mit aller Gewalt umzukehren und zu benutzen versuchen. Diese systematische und paradoxale „Verfertigung der Wahrheit“ kann mithilfe des Medientheoretikers Jean Baudrillard entschlüsselt werden.
Mythos und ent-zauberung
Das putin’sche System agiert schon lange auf dem Territorium der Zeichen, der simulierenden Narration und Manipulation: Es beruht auf einer eklektizistischen Aneinanderreihung von Ideologien und Machtsymbolen, die – und darin liegt ihre oberflächliche Überzeugungskraft – in eine vermeintliche narrative Kohärenz gebracht werden. Damit spiegelt die russische Simulationsmaschine das von Baudrillard skizzierte Bild des „hyperrealen“ Mythos wider, der im Moment eines historischen Vakuums die Realität mit einer sinnentleerten Metaebene anreichert: Ein politisches Universum, „in dem alle Hypothesen zugleich umkehrbar und wahr (oder falsch) sind. Weder wahr noch falsch übrigens“ (Baudrillard 1978/1, 45). Auch Filmemacher Adam Curtis zeigte in seiner Dokumentation „HyperNormalisation“ (2016) erhellend auf: Ziel der russischen Simulation sei es, die Wahrnehmung der Menschen von der Welt zu unterlaufen – „sodass sie nie wissen, was wirklich passiert.“
vladimir putin und russische Staatsmedien werden in ihren hobbyhistorischen Ausschweifungen bereits seit Jahren nicht müde zu betonen, dass die ukrainische Kultur keine wirkliche Kultur und die ukrainische Sprache keine wirkliche Sprache sei – ein zentrales Narrativ im russischen Medienkosmos. Die Ukraine sei ein Konstrukt, das dem „russkij“ mir, der „russischen Welt“, einzuverleiben sei. Das Programm der „De-Nazifizierung“, in dessen Namen der genozidale Angriffskrieg betrieben wird und das in einem Satz mit „De-Ukrainisierung“ und „De-Europaisierung“ genannt wird, zirkulierte jahrelang in der Zeichenwelt der russischen Propaganda, bevor es nun explosionsartig seine mörderische Wirkung entfaltete.
Dass Propaganda nicht nur für die Vorbereitung, sondern auch Aufrechterhaltung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zentral ist, wurde deutlich, als wenige Tage nach der Einnahme Mariupols LKWs mit riesigen Fernsehbildschirmen in die nahezu vollkommen zerstörte Stadt einfuhren – um die wenigen in der Stadt verbliebenen Überlebenden prompt mit russischer Propaganda zu überfluten.
Gefährliche Großbuchstaben
Der Slawist Ulrich Schmid sieht ganz im Sinne Baudrillards putins mediale Simulationsmaschine vor allem dadurch motiviert, dass sie ein Sinnvakuum mit Mythen füllen soll: Nachdem putin Anfang der nuller Jahre – nach den Wirren der Neunziger – für eine gewisse Stabilität und für einen erhöhten Lebensstandard im Land gesorgt hatte, konnte er schon bald keine weiteren Erfolge mehr verzeichnen. Die russische Wirtschaft wurde unter der langjährigen Herrschaft putins nicht weiter ausgebaut: Sie blieb vorrangig abhängig von Rohstoffen, Investitionen versanken im Korruptionssumpf, ein Blick in die Zukunft versprach ebenso keine Besserung. Um vor den Menschen in russland die ausbleibende positive Entwicklung zu rechtfertigen, bot sich ein Feindbild an: der degenerierte, individualistische Westen mit seinen „Prides“, der das glorreiche Mütterchen russland erdrücken wolle. Schuld an der stagnierenden Lebensqualität sei nicht das korrupte, chauvinistisch-diktatorische System putin, sondern der westliche Liberalismus.
Um dieses Narrativ zu verallgegenwärtigen bedurfte es mythologischer Erzählungen – und einer gewaltigen Medien- und Propaganda-Maschinerie. Ulrich Schmid hat in seiner Monographie Technologien der Seele: Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur bereits 2016 eine ausführliche Analyse des putin’schen Propaganda-Apparats vorgelegt. Den mit dem Leben in der Postmoderne verbundenen Verlust einst als unumstößlich geltender Wertessyteme – wie beispielsweise dem Glauben an die Wahrheit des Kommunismus –, zeigt Schmid, nutzt putin geschickt aus, um ein „recyceltes“ synkretistisches Imperium aufzubauen, das vermeintlich Geborgenheit bietet. Doch wie können Sowjetideologie und das russische Imperium mit orthodoxem Christentum und Zarenkult als zentrale Bestandteile dieser neuen „russischen Welt“ zugleich angepriesen – und dabei Konsistenz bewahrt werden?
Simulation ist ein passendes Mittel, um versunkene Geschichte wiederaufleben zu lassen und über unverarbeitete Traumata hinwegzutäuschen. putins megalomanisches Wunschdenken, als historische Figur und Herrscher eines geschichtsrevisionistischen Imperiums zu schreiben, ist in eine neue Spielart des Faschismus mutiert, die strukturell in vielen Punkten der imperialistischen Nazi-Ideologie gleicht.
Digitaler Faschismus?
Für dieses sich in einer „Spezialoperation“ befindliche System wurde jüngst der Begriff Raschismus [rašismus] geprägt: ein Neologismus, der russia und Faschismus miteinander vereint und für den Wikipedia bereits einen eigenen Eintrag führt. In der Tat gemahnt die russische Verwendung der lateinischen Majuskeln V und Z an die nationalsozialistische Symbolik. Der Historiker Timothy Snyder verfasste am 19. Mai in der New York Times einen Essay, in dem er die faschistischen Züge des heutigen russlands ausbuchstabiert. Auf Twitter machte ein makaberer Witz die Runde, der mit der Frage beginnt, warum die Z-Type benutzt werde. „Oh, das ist nur das Hakenkreuz, aber man hat die andere Hälfte gestohlen.“
Welche Relevanz Zeichen und Symbolen im aktuellen Kriegsgeschehen zukommt, wurde deutlich, als auf russischen Militärfahrzeugen in der Ukraine zunehmend kryptische Zs und Vs gesichtet wurden – die Interpretationsversuche überhäuften sich und schienen die Wirkmacht des Mythos zu nähren oder gar zu potenzieren: Steht das Z nun für Za pobedu (Für den Sieg), Za mir (Für den Frieden), Zapad (Westen), oder doch für etwas ganz anderes? Kurze Zeit später zogen die Lettern auch in die russischsprachige Alltagswelt ein: Man findet sie längst nicht nur auf Postern und Bannern, sondern auch in Form von Süßigkeiten, Z-förmigen Menschenformationen an Schulen oder Universitäten, auf Spielzeug-Panzern. Dabei besticht das Primat der Form vor dem Inhalt: Die semantische Bedeutung bleibt bei allen Z-Variationen obskur und ungeklärt.
Die Z-Symbolik, die etwa auf Tiktok in subversiven (ukrainischen) Gegen-Angriffen parodiert wird, indem das Z als Zombie dechiffriert und damit eine Umkehrung des putin’schen Siegesmythos impliziert wird, sei eines der prominentesten Beispiele dafür, wie der Z-Faschismus im russischen digitalen Kontext propagiert werde, sagte Holger Marcks, Mitherausgeber des Buches „Digitaler Faschismus“ (Dudenverlag), kürzlich im Dlf Kultur. Das Z sei in eine „klassisch faschistische Aura“ gehüllt und diene der nationalen Mobilisierung nach innen: „als sinn- und identitätsstiftendes Symbol, als Chiffre für den Krieg, zu dem man sich bekennt.“ Bereits Baudrillard attestierte dem Faschismus eine „‘irrationale’ Überfrachtung mit mythischen und politischen Bezügen“, mit denen er sich gegen die neutralisierende Sinnentleerung und Geschichtslosigkeit des kapitalistischen Zeitalters wehre (Baudrillard 1978/1, 56).
Gegen-Angriff: Aufstand der Zeichen
Kurz nach Beginn des brutalen Angriffskrieges in der Ukraine am 24. Februar begannen der Twitter-Account des ukrainischen Verteidigungsministeriums, ukrainische Medien und Instagram-User, „putin“ und „russland“ klein zu schreiben: Die bewusste Missachtung der grammatikalischen Norm, die eine Verkleinerung des überhöhten Mythos einer „russischen Welt“ durch die simple Verkleinerung der Anfangsbuchstaben impliziert, avancierte zu einem subtilen, aber beliebten Kampfmittel gegen den russisch-imperialen Machtanspruch.
Dieser Angriff, der weniger auf inhaltlicher als auf medialer Ebene der Zeichen erfolgt, unterläuft den eingespielten russischen Propaganda-Apparat durch einen Akt symbolischer „er-niedrigung“. Die Kriegsfront hat sich damit einmal mehr in die virtuelle Welt der Codes und Zeichen – der „coded language“ – verlagert. Schon Baudrillard hob die Dominanz der medialen Ebene des Bezeichnenden (Signifikanten) vor der Bedeutungsebene, der Ebene des Bezeichneten (Signifikate), bei solchen Prozessen hervor. Er schreibt darüber, „daß die grundlegende Ideologie nicht mehr auf Ebene der politischen Signifikate, sondern auf der Ebene der Signifikanten funktioniert – und daß hier das System verwundbar ist und bloßgelegt werden muss“ (Baudrillard 1978/1, 30).
Die Bühnen dieser subversiven Angriffe sind nicht mehr nur die Wände im urbanen Raum, sondern Instagram und Twitter. Mit den seit Jahren medial geführten russischen Propaganda-Kampagnen, die in russischen Stadt- und Interneträumen patriotische Symbolik allgegenwärtig machen, hat sich eine Kriegsfront längst in die Virtualität verlagert – und es ist dieser hybride Raum, in dem nicht erst seit der umfassenden russischen Invasion Kämpfe auf Ebene sprachlicher und visueller Zeichen ausgetragen werden. Im Westen scheint man sich in den letzten Jahren so sehr auf eine rein „hybride Kriegsführung“ russlands eingestellt zu haben, dass ein realer Krieg vielen unvorstellbar erschien.
Simulakra: Im Zombie-Reich der Zeichen
Wie die Wahrheit aktuell in russland „abgefertigt“ wird, illustriert eine Episode aus den ersten Kriegswochen: RIA novosti, Sprachrohr des Kremls, veröffentlichte am 26. Februar einen Artikel über den Sieg der russischen Armee über die Ukraine. Dieses Leak in der Propaganda-Maschine war schnell behoben, doch zeigt es geradezu modellhaft auf, wie die putin’sche Simulation – oder das Hyperreale bei Baudrillard – funktioniert: Als real gilt das, was als real herbeigeredet, antizipiert wird.
Im Reich der Simulakra, in dem „die Macht nur da ist, um zu verbergen, daß sie nicht mehr da ist“ (Baudrillard 1978/1, 48), dissimulieren Zeichen ihre Abwesenheit, denn „alles ist bereits tot und von vorneherein wieder auferstanden“ (Baudrillard 1978/2, 15). In jener Zwischenebene von Tod und Leben bewegen sich auch die kryptischen Vs und Zs: entleerte aber aufgeblasene Zeichenhülsen, Embleme der Gehaltlosigkeit aber totalen symbolischen Überfrachtung. Simulation – in dieser unbestimmten Zwischenwelt der (Zombie-)Zeichen – kann theoretisch endlos anhalten. Um diesen Schrecken zu verhindern, gilt es, den mehrfach verkehrten Siegesmythos des russischen Regimes in einem Guerilla-Aufstand der Zeichen zu entmachten.
Auch wenn es sich bei den kleinen Lettern „p“ und „r“ vielmehr um scharfe Nadelstiche als Bombenwerfer handelt: Sie können helfen, die Mythen unseres Alltags, die in der aktuellen Kriegssituation in großem Maße von putin, russland und dem „russkij“ mitbestimmt sind, auch in unserem Sprachgebrauch zu entzaubern. Man könnte hier eine Parallele zur Verwendung des Genderstars sehen: Er beseitigt nicht alle Probleme im Zusammenhang mit Diskriminierung aufgrund der Geschlechteridentität, zeugt aber einerseits von Reflexivität vonseiten der Schreibenden, andererseits „stolpern“ Lesende über diese ungewohnte Verwendung von Sprache – und werden ebenfalls zum Nachdenken angeregt. Uns scheint: Gerade in unserer digitalen Welt, in der wir ständig von Bild- und Schriftzeichen umgeben sind, können subversive textuale Veränderungen und symbolische Gesten sehr wirkmächtig sein. •
Elisabeth Bauer studiert Slawistik in Berlin und hat einen Bachelor in Kunst- und Bildgeschichte absolviert. Durch Studienaufenthalte in St. Petersburg, Moskau und Kyjiw konnte sie in die Kulturszenen und komplexen Erinnerungsräume beider postsowjetischer Länder eintauchen. Sie schreibt freiberuflich seit 2013 zu kultur- oder erinnerungspolitischen Themen – mit Publikationen u.a. in der „taz“, „WELT“, „ZEIT„ und „Ukraine verstehen“.
Yelizaveta Landenberger studiert Philosophie und Slawistik in Berlin und arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für ostslawische Literaturen und Kulturen der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Bachelor studierte sie Molekulare Biotechnologie, Philosophie und Jüdische Studien in Heidelberg. Sie hat Artikel u. a. für „osTraum“, den „Merkur-Blog“ und „Ukraine verstehen“ verfasst. Sie übersetzt zudem aus dem Russischen und Jiddischen.
Weitere Artikel
Elena Petrovsky: „Die Straße ist der letzte Ort, an dem in Russland noch Meinungsfreiheit möglich ist“
Alexej Nawalnys Verhaftung hatte in Russland jüngst eine neue Protestwelle ausgelöst. Die Philosophin Elena Petrovsky, die selbst an den verbotenen Demonstrationen teilnahm, spricht im Interview über den Zustand der russischen Demokratie, die paranoide Logik Putins sowie die Marginalisierung der Intellektuellen.

Aufstand der Armen
Der Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Grundnahrungsmittel weltweit in die Höhe. Die daraus entstehende Notlage vieler Menschen sah Hannah Arendt noch als Hürde für gelingende Revolutionen an. Doch die Vorzeichen haben sich geändert.

Rückkehr nach Sarcelles
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat ihre Jugend in Sarcelles, einer Stadt in der Pariser Peripherie verbracht. Seit 37 Jahren hat sie ihren Herkunftsort nicht mehr besucht. Für das Philosophie Magazin begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit, in eine Stadt, die von antisemitischen Aufständen und islamistischer Radikalisierung traumatisierten ist. Vor diesem Hintergrund entwirft sie die Grundlage eines neuen Universalismus, der Raum für die Religionen lässt.
Von Berlin nach Paris
Die französischen Existenzialisten sind in vielem von der deutschen Existenzphilosophie beeinflusst – aber sie schaffen auch etwas Neues, das den Fragen ihrer Zeit und ihres Ortes entspricht. Im Interview zeichnet Frédéric Worms eine kleine Familiengeschichte ihres Denkens.

Catherine Colliot-Thélène. Nachruf auf eine kosmopolitische Denkerin
Catherine Colliot-Thélène war Philosophin, Weber-Kennerin und eine subtile Denkerin des Kosmopolitismus. Am 6. Mai ist sie gestorben.

Jörg Baberowski: „Man muss die Kränkung über das verloren gegangene Imperium ernst nehmen“
Sogenannte „Russlandversteher“ geraten durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in die Kritik. Doch wie einen Ausweg finden, wenn im Dunkeln bleibt, warum Putin diesen Krieg führt? Ein Gespräch mit dem Historiker Jörg Baberowski über das Ende der Sowjetunion, kollektive Demütigung und die Schwierigkeit, ein Imperium zu entflechten.

Elite, das heißt zu Deutsch: „Auslese“
Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
Von der Revolte in die Versöhnung
Das Absurde ist „meine erste Wahrheit“, schreibt Albert Camus in Der Mythos des Sisyphos. Doch worin genau besteht diese Form der Wahrheit - und wie wird sie von einem Akt der Revolte zu einer Form der letzten Zustimmung?
