Jean-Vincent Holeindre: „Für Europa steht seine eigene Existenz auf dem Spiel“
Der Philosoph, Professor für Politikwissenschaft und Spezialist für Militärstrategie Jean-Vincent Holeindre erläutert im Interview, warum Putins Invasion der Ukraine als Angriff auf die Idee der liberalen Demokratie insgesamt zu verstehen ist.
Wie reagieren Sie auf den Kriegseintritt Wladimir Putins in der Ukraine?
Jede militärische Invasion ist überraschend, weil sie eine Vorstellungswelt des offenen Krieges hervorruft, von der man glaubte, sie gehöre in die Vergangenheit, ins 20. Jahrhundert. Wenn man jedoch versucht, die anfänglich empfundene Schockstarre zu überwinden, war es bekannt, dass Russland seit 2014 einen Krieg in der Ukraine führt. Er fand in Form einer aktiven Unterstützung der Separatisten im Donbass durch Spezialeinheiten statt, die das Land seit fast zehn Jahren besetzt hielten. Darüber hinaus ist Russlands Position seit langem bekannt. Noch bevor er in den 1990er Jahren an die Macht kam, äußerte Wladimir Putin offen seine Meinung, dass die Ukraine russisch sei und dass das Ende der Sowjetunion dazu geführt habe, dass Gebiete, die ein fester Bestandteil Russland waren, davon getrennt worden seien. Wir sollten also nicht so tun, als seien wir über Putins Strategie erstaunt. Er hat lange Zeit das Register der List gezogen, jetzt setzt er auf Gewalt. Das verstößt gegen unsere Überzeugungen. Denn wir anderen Europäer sind davon überzeugt, dass Diplomatie immer die bessere Lösung ist und sie sich daher auch als überlegen erweisen muss. Daher glauben wir nicht mehr, dass es notwendig ist, einen erheblichen Teil unseres Haushalts für die Verteidigung auszugeben. Aber das ist eine Illusion. Der Generalstabschef der Bundeswehr sagte gestern, dass er äußerst besorgt sei, weil er den Eindruck habe, dass die deutsche Armee nicht in der Lage wäre, einem solchen Angriff entgegenzutreten. Frankreich hingegen unternimmt zwar Verteidigungsstrategien, jedoch wäre es damit nicht in der Lage, allein gegen einen Angriff vorzugehen. Und was Großbritannien angeht… Nun, das Land befindet sich nicht mehr in der EU. Jenseits der Überraschung habe ich daher das Gefühl, dass die Demokratien auf eine Weise lernen müssen, sich gegen eine feindliche Absicht zu verteidigen, die aus ihrer politischen Agenda verschwunden war.
Wladimir Putin behauptet, die „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine anzustreben. Sind solche Äußerungen ernst zu nehmen?
Man muss Putins Äußerungen immer ernst nehmen. Der Ausdruck "Entnazifizierung" ist umso schockierender, als der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, Jude ist. Es ist eine Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg, die uns aufmerken lassen sollte. Denn Europäer und Amerikaner könnten sich sagen: Putin hat die Krim annektiert, er kämpft heute darum, die Unabhängigkeit des Donbass zu sichern, wo eine große Anzahl russischsprachiger Menschen lebt – vielleicht hört er danach auf. Doch für Putin ist die gesamte Ukraine russisch. Daher beabsichtigt er, das gesamte Land zu annektieren. Der Präzedenzfall in der zeitgenössischen Geschichte war die Invasion des Irak in Kuwait im Jahr 1990. Damals wurde eine internationale Koalition gebildet, um die Annexion durch eine groß angelegte Militäroperation zu verhindern. Wenn nun ein solcher Angriff auf europäischem Boden stattfindet, ist es nicht nachvollziehbar, warum es nicht ebenso notwendig sein sollte, ihn abzuwehren. Das ist die Frage, die sich heute stellt: Werden die verschärften Sanktionen, die sicherlich notwendig – wenn auch höchstwahrscheinlich nicht ausreichend – sind, zum Einsatz von Gewalt führen? Andernfalls würde dies bedeuten, dass der Westen akzeptiert, dass die Ukraine von Russland annektiert wird – Putins erklärtes Ziel. Würden wir uns weigern, im Fall der Ukraine das zu tun, was wir im Fall von Kuwait getan haben? Sicherlich sind die Amerikaner in einer weniger starken Position: Die Ukraine ist für sie ein weniger strategisches Gebiet und nicht Teil der NATO. Aber für Europa steht seine eigene Existenz auf dem Spiel, sowohl politisch als auch militärisch.
Wenn Wladimir Putin von der Möglichkeit spricht, im Falle einer ausländischen Intervention Atomwaffen einzusetzen, handelt es sich dann nicht um ein „auf das Äußerste gerichtetes Bestreben“, das Karl von Clausewitz in seinem Klassiker Vom Kriege beschreibt? Um die Gefahr eines „totalen Krieges“?
Der Begriff des „totalen Krieges“ wurde von Erich Ludendorff, einem Militär des Ersten Weltkriegs, eingeführt, der Clausewitz missinterpretierte. Clausewitz versuchte, dem Krieg einen politischen Rahmen zu geben, gerade um zu verhindern, dass er sich aufs Äußerste steigert. Das ist die Bedeutung seiner berühmten Formel, dass „Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.“ Die Idee des „totalen Krieges“ erweckt im Gegenteil den Eindruck, dass nicht die Politik den Krieg anführt, sondern umgekehrt. Aber Sie haben Recht, Clausewitz versucht zu verhindern, dass die bewaffnete Konfrontation von der Gefahr eines „Bestrebens zum Äußersten“, gemäß der Logik der Eskalation, erfasst wird. Diese ist dem Krieg aufgrund dessen, was er die „Wechselwirkungen“ der Protagonisten nennt, immanent. Die Situation, in der wir uns in der Ukraine befinden, folgt dem „clausewitzschen“ Muster insofern als wir mit der Möglichkeit einer Eskalation konfrontiert sind. Auf der einen Seite kann der Westen angesichts der Annexion eines verbündeten Landes nicht tatenlos bleiben. Andererseits besteht bei einer militärischen Intervention die Gefahr, dass Putin, der nicht nur ein geschickter Stratege, sondern auch ein von Ressentiments getriebener Diktator ist, zum Äußersten getrieben wird. Das ist das Dilemma der Stärke. Ein Dilemma, das der Westen ausgeschlossen hatte, weil er glaubte, dass Putin irgendwann aufhören würde. Heute muss es jedoch neu bewertet werden. Es würde mich sehr wundern, wenn der Westen, der schnell auf Schauplätzen interveniert, die für ihn keine Priorität haben – wie in Afrika oder dem Nahe Osten – nicht handeln würde, wenn er direkt bedroht ist. Doch das ist Putins Kalkül: Sie werden es nicht wagen! Weil die Ukraine nicht zur NATO gehört, weil niemand in einen derart großen Konflikt eintreten will... Ich befürworte keine überstürzten Reaktionen. Aber angesichts des realen Plans Putins, der es auf die gesamte Ukraine abgesehen hat, bin ich davon überzeugt, dass sich für uns die Frage des Gewalteinsatzes stellen wird.
Könnte man das ukrainische Militär nicht zumindest stärker bewaffnen?
Ja, das ist bereits geschehen. Der Krieg dauert schließlich seit 2014 an. Aber diese Strategie hat keine ausreichenden Auswirkungen gezeigt.
Sie haben in Ihren von Thukydides, Machiavelli und auch Clausewitz inspirierten Überlegungen gezeigt, dass List und Stärke seit jeher die beiden grundlegenden Komponenten des Krieges sind. Sie behaupten, dass ohne Stärke die List nichts nützt und umgekehrt. In der aktuellen Krise sieht es so aus, als hätte Putin diese beiden Komponenten perfekt miteinander vereint, während der Westen sich darin als unfähig erweist...
Eine List ist ein trügerisches Geschick, das den Gegner überraschen soll. Putin handhabt sie in der Tat sehr raffiniert. Und das umso effektiver, als er es sich nie nehmen lassen wird, sie wenn nötig mit Gewalt zu kombinieren. So konnte er immer die Oberhand behalten. Währenddessen hat der Westen offen erklärt, dass er in der Ukraine niemals Gewalt anwenden werde. Das ist möglicherweise wahr, aber es hätte nicht ausgesprochen werden dürfen. Es wird nicht einmal versucht, Putin zu überlisten. Sehen Sie nur, wie er Emmanuel Macron zum Narren gehalten hat, der triumphierend verkünden wollte, ein Gipfeltreffen zwischen Russland und den USA eingeleitet zu haben. Putin hatte zweifellos informell glaubhaft gemacht, dass er dazu bereit ist, aber nur um die Möglichkeit offen zu halten, im günstigsten Moment zur Gewalt überzugehen. Das Problem des Westens ist, dass er sich in keinem der Register mehr befindet: weder in dem der List noch in dem der Stärke. Die westlichen Demokratien sind zwar bei weitem nicht machtlos, aber alles läuft so ab, als hätten sie die Kontrolle verloren. Das erinnert an die Zwischenkriegszeit. Putin ist nicht Hitler und der Kontext ist nicht derselbe. Aber schon damals wollten die Europäer glauben, dass Nazi-Deutschland irgendwann aufhören würde, obwohl Hitlers kontinentaleuropäisches Projekt deutlich offen lag. Hier müssen die Lehren aus der Geschichte gezogen werden. Die Tatsache, dass Putins Projekt bekannt ist, und dass er jedes notwendige Mittel nutzen wird, um es zu verwirklichen, muss mitgedacht werden. Und es muss ihm – in aller Vorsicht und ohne zu schnell aufs Äußerste zu gehen – klar gemacht werden, dass er keinen unabhängigen Staat annektieren kann. Andernfalls würde dies einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Das wäre ein monumentaler Fehler für die Zukunft der europäischen Ordnung.
Wie können die von Hugo Grotius eingeführten Theorien vom „gerechten Krieg“ auf diese Situation angewandt werden?
Für Grotius und seine Nachfolger ist der gerechte Krieg der Defensivkrieg: die Selbstverteidigung gegen einen bewaffnete Angriff. Umgekehrt kann ein Angriffskrieg niemals gerecht sein. Dies ist die grundlegende Errungenschaft der Theorie des gerechten Krieges. In unserem Fall muss man kein Interventionist sein, um einzusehen, dass es sich um einen Fall des „Angriffs“ handelt und dass eine Gegenreaktion absolut legitim wäre. Wir haben es hier mit dem klassischen Fall zu tun, in dem ein souveränes Land ein anderes angreift. Die Frage ist, wer die Verbündeten des souveränen ukrainischen Staates sind. Welche Mittel können die Verbündeten, vor allem die demokratischen Staaten der EU und die USA, einsetzen? Sind es Sanktionen? Doch Sanktionspolitik hat keine abschreckende Wirkung. Putin bewegt sich in einem strategischen und politischen Register. Ihn an der Brieftasche zu treffen, wird daher nicht ausreichen.
Abgesehen vom Fall der Ukraine: Gefährdet die Aggression nicht auch die internationale Ordnung?
In dem Text Reductio ad hitlerum des Historikers Alain Bergounioux, der auf französisch auf der Website Telos erschienen ist, argumentiert dieser, dass wir in eine historische Periode der allgemeinen Neuverteilung der Macht eintreten. Das internationale System wird vor dem Hintergrund des strategischen Abstiegs der USA, Chinas Aufstiegs zur Macht und der Rückkehr Russlands neu gestaltet. Und das Ereignis der Invasion ist zweifellos der offizielle Akt dieser Neuverteilung der Macht. Es stellt die westlichen Demokratien auf die Probe. Es handelt sich um eine große sicherheitspolitische Herausforderung: nämlich Europa vor einem militärischen Angriff von außen zu schützen. Aber es ist auch eine politische Herausforderung: Russland – aber vielleicht auch morgen schon China in Taiwan oder die Türkei – ist entschlossen, das Modell der liberalen Demokratie auf internationaler Ebene und in jedem einzelnen Land frontal anzugreifen. So war es auch mit den Totalitarismen der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Auch unabhängig vom Krieg sind es Politikmodelle, die hier erneut auf dem Spiel stehen. •
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