Putins Rache?
Hinter Putins Angriffskrieg, so ist immer wieder zu lesen, stehe ein archaisches Motiv: Rache. Doch diese Begründung verrät in Wirklichkeit mehr über uns als über Putin. Ein Impuls von Fabian Bernhardt.
Vor vier Wochen noch hätte kaum jemand für möglich gehalten, was gerade in der Ukraine passiert. Der russische Angriffskrieg fordert nicht nur die internationale Politik heraus, sondern auch und vor allem das Verstehen. Wie zum Teufel konnte es so weit kommen? Und was bewegt Putin dazu, diesen Krieg zu führen? Seit einigen Tagen macht ein neues Deutungsschema die Runde: Unfähig, über den Zerfall der Sowjetunion hinwegzukommen, wird Putin angetrieben von gekränkter Ehre, verletztem Männerstolz und dem tiefsitzenden Stachel einer historischen Demütigung: Der Ukrainekrieg als Putins Rache.
Tatsächlich hat Wolodymyr Selenskyj bereits am dritten Tag des Kriegs in Zusammenhang mit den russischen Kampfhandlungen das Wort Rache gebraucht. Und Emmanuel Macron, der Präsident Frankreichs, hat dieser Deutung den weiteren Boden bereitet, als er in einer Rede am 3. März davon sprach, dass dieser Krieg „einem Geist der Rache“ entsprungen sei, „angetrieben von einer revisionistischen Lektüre der Geschichte Europas“.
Man versteht, was Äußerungen wie diese vermutlich bezwecken: Im politischen und moralischen Denken der Moderne stellt Rache unter keinen Umständen ein zulässiges Handlungsmotiv dar. Wer Putins Krieg als Racheakt bezeichnet, zielt folglich darauf ab, ihn umfassend zu delegitimieren. Der Rekurs auf die Rache wäre dafür aber gar nicht nötig. Schließlich stellt sich der russische Angriffskrieg bereits aus völkerrechtlicher Perspektive eindeutig als illegitim dar. Man muss also gar nicht den dunklen Geist der Rache aufrufen, um deutlich zu machen, dass Putin das Recht gegen sich hat. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen: Handelt Putin aus Rache?
Vermeintliches Unrecht
Bereits Aristoteles bestimmte die Rache als Replik auf ein vermeintlich oder tatsächlich erlittenes Unrecht. In anderen Worten: Wer rächt, fühlt sich im Recht, weil er oder sie davon überzeugt ist, vorher ein Unrecht erlitten zu haben. Mag sein, dass Putin tatsächlich so empfindet. Falls dem so ist, muss man sich allerdings fragen, ob dieses Gefühl gerechtfertigt ist, ihm also tatsächlich ein Unrecht angetan wurde. Und diese Frage muss ganz klar verneint werden. Denn welches Unrecht hat die Ukraine Putin bitteschön angetan? Dass sich das Land unter Selenskyjs Führung mehr Richtung Westen als Richtung Osten orientiert und eine stärkere Anbindung an Europa sucht, mag Putin zwar als narzisstische Kränkung empfinden und Selenskyj möglicherweise persönlich übelnehmen (nicht zuletzt, weil es seinen neoimperialen Bestrebungen zuwiderläuft), aber ein Unrecht und eine Normübertretung stellt das wohl kaum dar. Schließlich handelt es sich bei der Ukraine um einen souveränen Staat, der seine Entscheidungen unabhängig davon treffen kann, ob es dem „großen Bruder“ im Osten gefällt.
Man muss mit dem Deutungsschema der Rache also sehr vorsichtig sein. Seit der Aufklärung stellt Rache im europäischen Denken ein Reizwort dar, das starke Affekte auslöst. Deshalb sollte man stets genau darauf achten, wer dieses Wort in welchem Kontext mit welcher Absicht gebraucht. Insbesondere in gewaltförmigen politischen Konflikten geschieht es häufig, dass sich Rache mit anderen Motiven mischt oder lediglich als Vorwand dient, um realpolitische Machtinteressen rhetorisch zu verschleiern. Ebenso wie der Verweis auf Rache dazu verwendet wird, bestimmten Handlungen ihre Legitimität abzusprechen, dient er gerade in Kriegszeiten häufig auch dazu, gewaltförmige Handlungen zu legitimieren.
Angriff und Gegenangriff
Mehr noch: Sobald der Kriegszustand eine gewisse Zeit andauert, lässt sich im Grunde jede beliebige Handlung als Racheakt deuten, weil zum Krieg unweigerlich gehört, dass auf beiden Seiten Menschen getötet und verletzt werden, in einer permanenten Folge von Angriffen und Gegenangriffen. Wenn alles Rache sein kann, dann ist aber auch nichts mehr Rache. Der Begriff verliert jede Trennschärfe und wird von der Logik des Krieges gleichsam absorbiert. So sehr Putin das Recht gegen sich hat, so sehr steht zu bezweifeln, dass etwas damit gewonnen ist, ihm als Motiv ein persönliches Rachebedürfnis zu unterstellen. Das Racheargument läuft letztlich Gefahr, dem Aggressor selbst in die Hände zu spielen, weil es unter der Hand dessen Logik und Denkweise – etwa das Freund-Feind-Schema – übernimmt.
Es drängt sich allerdings noch eine weitere Deutung auf für die Konjunktur, die das Wort Rache in letzter Zeit erfährt. Eine, die weniger mit Russland und der Ukraine zu tun hat als vielmehr mit uns selbst. Angesichts der Schreckensmeldungen und Bilder der Zerstörung, die uns Tag für Tag aus der Ukraine erreichen, fällt es schwer, sich nicht von einem Gefühl der Ohnmacht ergreifen zu lassen. Und von diesem Gefühl aus ist es nur ein kleiner Schritt hin zu Wut und Zorn, Gefühlen also, die mit einem starken Handlungsimpuls einhergehen.
Möglicherweise sagt die Eilfertigkeit, mit der der Topos von Putins Rache in den letzten Tagen aufgenommen und medial verbreitet wurde, also weniger etwas über Putin aus, sondern kündet vielmehr von den Rachegefühlen, die uns selbst untergründig heimsuchen, die wir jedoch unterdrücken, als irrational abtun und auf das „Andere“ projizieren. Putins Rache wäre in diesem Fall lediglich eine Chiffre und ein Spiegel für die Hilfslosigkeit und die ohnmächtige Wut, die große Teile der Weltöffentlichkeit angesichts des Krieges in der Ukraine befällt. •
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