Putins Lügen und Kants Irrtum
Mit ihren Lügen untergraben Putin und Lawrow nicht die regelbasierte internationale Ordnung, sondern ihre eigene Macht. Ein Impuls von Geert Keil.
Die russische Regierung ist zu Verhandlungen bereit, heißt es – über Fluchtkorridore, Sicherheitsgarantien, einen Waffenstillstand oder die Separatistengebiete in der Ostukraine. Warum liest und hört man solche Meldungen mit gemischten Gefühlen? Erklärungen von Verhandlungs-bereitschaft sind doch eine gute Sache.
Nun, das hängt davon ab, wer die Erklärung abgibt. Putin und Lawrow haben vor und nach Kriegsbeginn so ausdauernd gelogen und so viele Verträge gebrochen, dass man nicht sieht, warum sie jetzt damit aufhören sollten. Zum Aushandeln von Vereinbarungen gehört die Absicht, sich an das Vereinbarte zu halten. Es ergibt keinen rechten Sinn, mit notorischen Lügnern und Vertragsbrechern Vereinbarungen zu schließen. Auf einem anderen Blatt steht, dass man es manchmal dennoch tun muss, weil alle anderen Optionen noch schlechter sind.
Das Erosionsargument
Immanuel Kant hat in seinem kleinen Aufsatz Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen begründet, warum Lügen unter allen Umständen moralisch verboten seien: weil eine Aufweichung des Lügenverbots dazu beitrage, „daß Aussagen überhaupt keinen Glauben finden“. Damit würden nach Kant „auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen“. Wollte man beispielsweise eine Ausnahme für Notlügen gestatten, so könnte sich jeder darauf berufen, wodurch die Grundlage der Wahrhaftigkeitspflicht „schwankend und unnütz gemacht“ würde. Heute würde man sagen: Die Norm würde erodieren, wenn man nicht mehr auf allgemeine Akzeptanz rechnen könnte. Nennen wir dieses Argument das Erosionsargument.
Der zu Unrecht berühmte Aufsatz gehört ohne Frage zu den schwächeren Texten Kants. Empirisch betrachtet hat Kant sich spektakulär geirrt: Menschen lügen ziemlich häufig, ohne dass die beschriebenen Folgen eingetreten wären. Die Zählungen schwanken zwischen 25 und 200 Lügen pro Person und Tag. Auf so hohe Zahlen kommt man nur mit einem sehr weiten Lügenbegriff, aber auf die genauen Zahlen kommt es nicht an.
Wie funktionieren Lügen überhaupt? Der Sprechakt des Lügens ist ziemlich voraussetzungsreich. Der Lügner will andere etwas glauben machen, was er selbst nicht für wahr hält. Dabei verlässt er sich darauf, dass die anderen nicht erwarten, belogen zu werden. Er missbraucht also das ihm entgegengebrachte Vertrauen und verhält sich parasitär. Würden alle wechselseitig voneinander erwarten, belogen zu werden, wäre der Vorteil, den der Lügner sich verspricht, dahin. Insofern sind Lügen ein gutes Zeichen: Solange erfolgreich gelogen wird, ist das von Kant beschriebene Szenario nicht Wirklichkeit geworden. Es ist noch nicht dazu gekommen, dass niemand niemandem mehr glaubt.
Menschen sind klüger, als Kant denkt
Was hat Kant übersehen? Das Erosionsargument klingt doch plausibel. Nun, Menschen sind klüger, als in diesem Argument angenommen wird. Wir können im Alltag sehr wohl abschätzen, wem wir wann und in welcher Angelegenheit Glauben schenken dürfen und wem nicht. Wir wissen, dass in unterschiedlichen Sphären unterschiedliche Erwartungen gelten: in Wahlkämpfen, im Zeugenstand vor Gericht, in Tarifverhandlungen, unter engen Freunden, beim Gebrauchtwagenkauf, bei Angaben von Kriegsparteien über eigene und fremde Opferzahlen. Hier gelten jeweils unterschiedliche Regeln, obschon sie niemand aufgeschrieben hat.
Zumal in der politischen Sphäre haben wir „kein Recht auf Leichtgläubigkeit“, wie die Philosophin Simone Dietz es einmal ausgedrückt hat. Wir müssen oft damit rechnen, dass ein Sprecher ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit hat, und wir können uns mit etwas Lebenserfahrung darauf einstellen. Das betrifft nicht nur Lügen, sondern auch andere unaufrichtige Sprechakte: Täuschungen, Irreführungen, falsche Versprechen, jemanden im falschen Glauben lassen. Als Beobachter des politischen Geschehens lernt man auch, wann ein Sprecher zu strategischer Unschärfe oder zu windelweichen Dementis greift und seine Rückzugsoption für den Fall, dass er zur Rede gestellt wird, schon kalkuliert hat. Kurz: Kant hat unsere Kompetenz im Umgang mit Lügen und anderen unaufrichtigen Sprechakten unterschätzt.
Zur Lügenkompetenz gehört übrigens auch das geteilte Wissen, dass manche Notlügen moralisch erlaubt sind. Einige sind sogar moralisch geboten. Der von Kant diskutierte Fall, in dem ein Verfolgter an seine Verfolger verraten wird, dürfte ein gutes Beispiel dafür sein. Kant hat sich auch in diesem Punkt geirrt: Aus dem kategorischen Imperativ folgt schlicht kein kategorisches Lügenverbot.
Was Putin nicht begriffen hat
Die Praxis wechselseitiger Absprachen und internationaler Verträge ist verblüffend resilient. Putin und Lawrow sind nicht stark genug, durch noch so viele kurzbeinige Lügen das Phänomen der Verlässlichkeit aus der Welt zu schaffen und damit „die Rechtsquelle für Verträge unbrauchbar zu machen“, wie Kant es ausdrückt. Wohl aber hatten sie es in der Hand, ihre eigene Glaubwürdigkeit nachhaltig zu verspielen. Der kleine wahre Kern des Erosionsarguments betrifft die individuelle Glaubwürdigkeit. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“, sagt der Volksmund. Auch das ist natürlich übertrieben. Ob Putin seine Leibwächter belügt oder ein Vertrauensverhältnis zu seinem Koch hat, wissen wir nicht. Wer aber immer wieder interessegeleitet über bestimmte Themen lügt, der hat seine Glaubwürdigkeit in eben dieser Hinsicht verspielt. Es kommt also nicht nur darauf an, wie oft man lügt, sondern auch darauf, worüber, wem gegenüber und aus welchem Interesse heraus.
Die russische Führung hat sich in eine Lage manövriert, in der sie nur noch durch fortgesetztes Lügen ihr Gesicht wahren zu können glaubt. Dabei zielen ihre Lügen weniger auf die internationale Gemeinschaft als auf die eigene Bevölkerung, die kaum noch Zugang zu Quellen außerhalb der Regierungspropaganda hat.
Zur Umkehr ist es zu spät, Putin und Lawrow sind international zu Parias geworden. Man sagt ihnen strategische Intelligenz nach, doch den Wert einer wichtigen Ressource haben sie nicht begriffen: den der minimalen Vertrauenswürdigkeit. Dass die russischen Machthaber diesen Weg gewählt haben, macht sie zu Figuren der Vergangenheit. Heute gefährdet auch der Verlust weichen Kapitals politische Macht. Vielleicht werden sie den Machtverlust nicht mehr in Amt und Würden erleben, sondern in ihren Zellen in Den Haag. Schwer zu ertragen ist, dass für dieses abschreckende Beispiel und diesen historischen Lernprozess so viele Menschen sterben müssen. •
Geert Keil ist Professor für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Universität und Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie.
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