Einbruch des Realen
Warum hielten trotz jahrelanger Drohungen so viele eine russische Invasion der Ukraine für unwahrscheinlich? Weil wir alternative Szenarien bevorzugen, um dem Realen zu entfliehen, meint Alexandre Lacroix, Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine. Zeit, das Undenkbare anzunehmen.
Am Morgen des 24. Februars um 4 Uhr 33, während erste Einschläge von Luftangriffen die wichtigsten ukrainischen Städte trafen und, um Wladimir Putins maliziösen Euphemismus aufzugreifen, eine riesige „Entmilitarisierungs“-Aktion des Landes begann, verfasste die britische Botschafterin in der Ukraine, Melinda Simmons, folgenden Tweet: „Ein völlig ungerechtfertigter Angriff auf ein friedliches Land hat begonnen. Entsetzt. Nur, weil man sich wochen- und monatelang auf diese Möglichkeit vorbereitet und über sie nachgedacht hat, heißt das nicht, dass es nicht schockierend ist, wenn sie tatsächlich eintritt.“
Dieser ernste und ungewohnt nachdenkliche Kommentar kommt den Erklärungen des Philosophen Clément Rosset in Bezug auf das Reale ausgesprochen nah. Die Besonderheit des Ereignisses, dessen, was reell geschieht, besteht in der Tat darin, dass es zugleich überraschend und unvermeidlich ist. Wenn die Geschichte voranschreitet, erstaunt sie uns und schlägt uns in ihren Bann, während sie doch einer unerbittlichen Logik folgt und uns die Ursachen für die wichtigsten Entwicklungen seit langem vor Augen lagen.
Freilich hat kein Krieg Clément Rosset zu seiner bitteren Reflexion in Le Réel et son double (1976) inspiriert, sondern der Mythos von Ödipus. Der grobe Ablauf des Mythos ist bekannt: An dem Tag, als Ödipus erfährt, dass bei seiner Geburt ein Orakel vorhergesagt hat, er werde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen, verlässt er Korinth, damit sich nichts dergleichen zutrage, und läuft von seinen Adoptiveltern weg. Auf dem Weg dauert es nicht lange, bis er mit einem älteren Mann in Streit gerät und ihn erschlägt (das ist sein wahrer Vater, Laios), und später heiratet er eine Frau, ohne zu wissen, dass es seine Mutter ist (Iokaste). Die erste Reaktion beim Hören dieser Geschichte ist oft Empörung: „Mensch, was für ein Idiot, er hätte doch nicht so wegrennen müssen, er stürzt sich ja geradewegs in sein Unglück!“ Wenn man allerdings darüber nachdenkt, ist der Mythos unerbittlich und sein Szenario äußerst fein gestrickt: Es ist sehr schwierig, sich andere plausible Umstände auszudenken, unter denen ein Mensch seinen Vater ermorden und mit seiner Mutter in den Hafen der Ehe einlaufen könnte. Und hier stößt man wieder auf die feine Bemerkung von Melinda Simmons: Wir wissen, was passieren wird, und sind trotzdem überrascht vom Weg, den das Unausweichliche einschlägt, um stattzufinden.
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