Gibt es eine Alternative?
Der derzeitige Lockdown wird bis zum 14. Februar verlängert und in Teilen verschärft. Als Grund nennt die Bundesregierung – neben den zwar sinkenden, aber nach wie vor hohen Infektionszahlen – vor allem die Sorge vor den neuen Virusmutationen. Wer jedoch eine solche Präventionspolitik alternativlos bezeichnet, blendet wesentliche Fragen aus. Ein Kommentar von Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazin.
Noch weiß niemand, wie gefährlich die Virusmutationen wirklich sind. Aber immerhin steht fest, dass sie gefährlich sein könnten. Aus diesem Grund sei nun, so Merkel, „Vorsorge“ nötig. Das ist natürlich erst einmal rational. So rational, dass sich, so scheint es, Kritik von vornherein verbietet. Wer wollte bestreiten, dass der Lebensschutz der Kern zivilisatorischen Fortschritts ist und im Grunde auch die Existenz vor Corona maßgeblich bestimmt hat. Immerhin sichern wir uns als aufgeklärte Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts ganz selbstverständlich und alltäglich gegen Gefahren ab. Durch Versicherungen, Airbags, Fahrradhelme oder Vorsorgeuntersuchungen zum Beispiel. Wer regelmäßig zum Arzt geht und Gesundheitschecks in Anspruch nimmt, hat eine höhere Lebenserwartung als Menschen, die dies nicht tun. Wie also wäre gegen die Präventionspolitik der Kanzlerin und der Länder etwas einzuwenden; zumal es im Fall von Corona nicht nur um einzelne Leben, sondern um tausende geht.
Doch hat die Rationalität der Prävention eine Kehrseite, die der Soziologe Andreas Reckwitz im aktuellen Philosophie Magazin als „Wandel hin zu einer Politik des Negativen“ bezeichnet. Die Zukunft wird nicht mehr gedacht und verhandelt als gestaltbarer Möglichkeitsraum, sondern als Bedrohungsszenario, gegen das es sich zu wappnen gilt. „Eine Politik, die sich nur noch auf den Umgang mit dem Negativen fokussiert und alle positiven Zielmarken aus dem Blick verliert, schüttet das Kind mit dem Bade aus“, so Reckwitz.
Mit anderen Worten: Der Selbstschutz wird zur obersten Maxime erklärt und absorbiert alle Energie: eine Dynamik, die auch auf individueller Ebene insbesondere dann gut zu beobachten ist, wenn sie sich ins Neurotische auswächst. Aus Angst vor Krankheiten oder sonstigen Gefahren traut man sich am Ende kaum noch aus dem Haus, was wiederum aus der Perspektive des Lebensschutzes betrachtet gar nicht so unvernünftig ist: Hypochonder leben bekanntlich länger.
Nun soll – und kann – hier selbstredend nicht behauptet werden, die Angst der Kanzlerin suche sich zwanghaft immer neue Anlässe: Mutationen zum Beispiel. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen, welche Maßnahmen sich am Ende als sinnvoll und welche als übertrieben, nachlässig oder auf lange Sicht schädlich (etwa mit Blick auf die Bildung der Kinder, die Ökonomie etc.) herausstellen. Keiner weiß, wie wir in einigen Jahren auf diese Krise, die in ihren Grundzügen bislang einzigartig ist, zurückblicken werden.
Der blinde Fleck
Umso mehr allerdings muss es da verwundern, dass die schwedische Corona-Politik, die einen Lockdown nach wie vor nicht in Erwägung zieht, in hiesigen Debatten und im Ringen um Lösungen auf der großen politischen Bühne kaum eine Rolle spielt. So als sei die Herangehensweise, stärker auf Eigenverantwortung zu setzen, von vornherein ausgeschlossen und indiskutabel. Entsprechend wird auch in der deutschen Presse der sogenannte „schwedische Sonderweg“ auffällig oft als „gescheitert“ bezeichnet (vgl. auch die Google-Suchvorschlag-Ergänzungen, die sofort „gescheitert“ und „geht zu Ende“ anzeigen). Als Beleg hierfür werden die dortigen, durch die lockeren Maßnahmen verursachten Infektions- und Todeszahlen angeführt.
Und ja, es stimmt: Die Zahlen sind im vergleichsweise dünn besiedelten Schweden vor allem in den Wintermonaten stark gestiegen. Über 10.000 Todesfälle, die in Verbindung mit dem Virus stehen, hat das Land inzwischen zu verzeichnen. Und ja, es stimmt auch, dass Schweden seine Forderung nach Eigenverantwortung inzwischen um einige Verbote ergänzt: Nur noch acht Personen dürfen sich versammeln, im Restaurant dürfen nur 4 Personen pro Tisch Platz nehmen, Bars und Restaurants dürfen nach 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen, Schwimmbäder, Museen und Bibliotheken bleiben vorerst geschlossen, weiterführende Schulen ersetzen den Präsenzunterricht durch Homeschooling. Ansonsten aber ist das Leben, wie übrigens auch die Wirtschaft, nach wie vor weitgehend intakt, Kitas und Grundschulen bleiben ebenfalls geöffnet. In den Grundschulen wurde lediglich die Präsenzpflicht aufgehoben: Wer sein Kind zuhause lassen will, darf das.
Die Frage der Abwägung
Es steht nicht fest, dass der schwedische Weg gescheitert ist. Fest steht zunächst einmal nur, dass Schweden anders abwägt: geht es dort doch nicht primär um das nackte Überleben, sondern auch um das gesellschaftliche Leben, die psychische Gesundheit, um Bildung und Zukunft der Kinder. Die entscheidenden Fragen lauten: Bis zu welchem Grade muss das Risiko des Todes eingegangen werden, um das Leben im umfassenden Sinn nicht preiszugeben? In welchem Verhältnis steht die Sicherung des Überlebens zu den Grundbedingungen des guten Lebens? Individuell – wie auch gesellschaftlich? Ja, um den Elefanten im Raum nun endlich zu benennen: Muss eine Gesellschaft in Extremsituationen womöglich gar mehr Tote in Kauf nehmen, um der Mehrheit weiterhin ein Leben, eine Zukunft zu ermöglichen? Was, wenn auf die derzeitigen Mutationen weitere folgen, gar eine noch weitaus schlimmere Pandemie im Anmarsch ist? Müssen wir uns nicht spätestens dann mit solchen Abwägungen beschäftigen?
Diese Fragen sind, wer wollte das bestreiten, heikel, vor allem für uns Deutsche, die wir im vergangenen Jahrhundert millionenfach Leben geopfert und gezielt vernichtet haben. Diese unsere Geschichte sollte uns eine Warnung sein, und zwar bis in alle Ewigkeit. Aber sie sollte uns nicht daran hindern, Fragen offen zu diskutieren, die in bestimmten Situationen offen diskutiert werden müssen – und zwar nicht gegen, sondern im Dienste der Menschheit. Tatsächlich war es niemand Geringeres als John Stuart Mill, der das Ausblenden von Meinungen in seinem Werk On Liberty als „Raub an der Gemeinschaft aller“ bezeichnet hat. Genau dieser Raub geschieht gegenwärtig, wenn Alternativen zur deutschen Präventionspolitik nicht in den entscheidenden Gremien ins Spiel gebracht und verhandelt werden.
Zuletzt noch ein Gedanke zum Mitnehmen: Während wir Deutschen uns nach wie vor nicht zu Tempolimits auf Autobahnen durchringen können und jedes Jahr mehr als 3000 Verkehrstote wissentlich und willentlich in Kauf nehmen, verfolgt die schwedische Politik die so genannte „Vision zero“. Der Kern dieser Vision: Jeder Verkehrstote ist ein Verkehrstoter zu viel. Eine solche Vision gefährdet das gesellschaftliche Leben nicht im Geringsten. Warum eigentlich verfolgen wir sie nicht? •
Weitere Artikel
Der Mensch ist dem Menschen kein Wolf
Heute beraten Bund und Länder über das weitere Vorgehen in der Corona-Krise. Für eine bedachte Rücknahme der Lockdown-Beschränkungen spricht ein wesentlicher Funktionsmechanismus liberaler Gesellschaften: Modernes Zusammenleben beruht auf Vertrauen. Es preiszugeben, bedeutet einen Rückschritt zum Hobbesschen Leviathan. Ein Kommentar von Svenja Flaßpöhler.

Das Aschenputtel-Prinzip
Durch 2G-Regeln wird der Druck auf Nicht-Geimpfte verschärft. Auch die Rhetorik wird rauer. Aber sind Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, wirklich die schlechteren Menschen? Ein Kommentar von Svenja Flaßpöhler.

Schluss mit dem TINA-Prinzip
Die kapitalistische Lebensform schien lange alternativlos. Die Corona-Krise zeigt: Das ist ein Irrtum.
Die neue Feigheit
Derzeit ist ein Appell im Umlauf, der „das Denken aus dem Würgegriff“ befreien will und „die demokratischen Prozesse“ durch linken Gesinnungsterror in Gefahr sieht. Mit seinen Allgemeinplätzen verfehlt der Aufruf jedoch das eigentliche Problem, meint Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazin.

19. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 19. Türchen: Unsere Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler rät zu Über den Prozess der Zivilisation von Norbert Elias (Suhrkamp, 520 S., 18 €)

5. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 5. Türchen: Unsere Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler rät zu Feuer der Freiheit von Wolfram Eilenberger (Klett Cotta, 396 S., 25 €)

Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner
Veye Tatah über Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus
Welche Aufgabe hat Deutschland im Hinblick auf das koloniale Erbe? Wie sollte man mit philosophischen Klassikern wie Immanuel Kant umgehen, die sich in ihren Texten u. a. rassistisch geäußert haben? Können wir angesichts des aktuellen Aufklärungsprozesses optimistisch in die Zukunft blicken? Auf der diesjährigen phil.cologne sprechen wir im Videointerview mit Veye Tatah über Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus. Veye Tatah ist Gründerin des Vereins Africa Positive und Chefredakteurin des gleichnamigen Magazins. Seit 2018 leitet sie das neugegründete Africa Institute for Media, Migration and Development (AIMMAD). Für ihr Engagement erhielt sie im Februar 2010 das Bundesverdienstkreuz am Bande.
