Tagebuch der Nacht
In der Moderne machte die Psychoanalyse eine folgenreiche Entdeckung. Das scheinbar Fremde der Träume ist ein Fremdes im Eigenen: das Unbewusste. Wie kommt man ihm auf die Spur? Auf welche Überraschungen stößt man, wenn man einen Monat lang seine Träume sammelt und interpretiert? Selbstversuch einer psychoanalytischen Traumdeutung mit Sigmund Freud und seinen Nachfolgern Carl Gustav Jung und Jacques Lacan.
Traum 1
Montag, 17. Juli 2023
Es beginnt mit einem harmlosen Strandausflug. Doch schon bald verdunkelt sich der Himmel, das Meer wird unruhig und schließlich türmt sich am Horizont eine riesige Wasserwand auf, die schnell näherkommt. Während die Welle auf mich zurast, muss ich mich über einen gewundenen Bergpfad vor dem Wasser in Sicherheit bringen. Bevor die Welle mich erreicht, schrecke ich auf.
Mein Unbewusstes stelle ich mir ein bisschen wie die Tiefsee vor: dunkel und unerforscht. Wie startet man nun den Tauchgang? Nach dem Aufwachen ist mir vor allem das Bild der Riesenwelle präsent. Parallelen zur Flut im Ahrtal drängen sich auf, zur Tsunami-Katastrophe 2004, zu Fukushima 2011. Bilder, die sich medial tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben und die gleichzeitig auf die Gewalt der Natur, aber auch auf die menschliche Umweltzerstörung hinweisen. Es ist ein hochaktuelles und gleichzeitig ein uraltes Bild: die Sintflut, die als Strafe über die Menschheit hereinbricht. Dieses starke Motiv legt zunächst eine Deutung mit C. G. Jung nahe. Denn für den Schweizer Psychoanalytiker und Freud-Schüler besteht die wichtigste Gesetzmäßigkeit des Unbewussten in der symbolischen Form. Das Symbol ist laut Jung ein „Naturprodukt“. Es stammt aus unserer archaischen, uralten Psyche, die, bevor wir unsere bewusste Rationalität ausbildeten, in mystischen Ritualen auf die Welt zugriff. Dieser dunkle, instinkthafte Zugang zur Wirklichkeit lebt noch in uns fort, so wie auch „unsere körperliche Struktur auf der allgemeinen Säugetieranatomie basiert“, und teilt uns ihre Erkenntnisse im Traum durch Symbole mit. Bei diesen Symbolen gilt es zu verbleiben. Das Meer stellt für Jung ein Bild der lebensspendenden Kraft des Weiblichen dar, aber auch ein Symbol für das Unbewusste selbst. Habe ich demnach Angst, von den Erkenntnissen aus meinem Unbewussten überrollt zu werden? Oder könnte es sich bei der Flutwelle auch um einen „Archetypus“ handeln: ein Motiv, das nicht aus der individuellen Erfahrung gestaltet wird, sondern das aus dem angeborenen, kollektiven Unbewussten stammt und sich in zahlreichen Mythologien zeigt, wie zum Beispiel der Sintfluterzählung der Bibel? Auch Jung träumt Anfang des 20. Jahrhunderts wiederholt von einer Flut, die sich über Europa ausbreitet. Erst im Nachgang erkennt er darin eine Vorwegnahme des Ersten Weltkriegs, der schon dunkle Schatten vorauswarf, dessen Umrisse das Unbewusste wahrzunehmen imstande war. Braut sich nun etwas Ähnliches über unseren Köpfen zusammen? Auch wenn das eine ziemlich dramatische Deutung des Traums ist, eine Warnung ist bestimmt nicht unangebracht.
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