Wann ist Kunst?
Zum heutigen Welttag der Kunst erläutert Eléonore Clovis mit dem US-amerikanischen Philosophen Nelson Goodman, warum die Frage „Was ist Kunst?“ falsch gestellt ist.
Sie besuchen einen Freund und stellen fest, dass vor einer zerbrochenen Fensterscheibe ein Gemälde hängt. Und was für ein Bild, ein echter Rembrandt! Entsetzt lassen Sie sich darüber aus, wie man nur so ein Sakrileg begehen könne. Woraufhin Ihr alter Freund erwidert: Zum einen vertrage er keine Zugluft, und zum anderen komme dem Gemälde, auch wenn es als Bild ein Kunstwerk sei, als Fenster kein besonderer Wert zu! Mit anderen Worten, die künstlerische Dimension dieses Gemäldes bestimme sich einzig nach dem jeweiligen Gebrauchskontext.
Mit diesem radikalen Beispiel ersetzt Nelson Goodman (1906-1998) die klassische Frage „Was ist Kunst?“ durch eine bescheidenere und zugleich konkrete, nämlich: „Was macht einen Gegenstand zu einem Kunstwerk?“ Oder noch prägnanter: „Wann ist Kunst?“ In Abgrenzung zu puristischen, überhöhenden und rein ästhetisch orientierten Theorien stellt Nelson Goodman die Frage nach dem Kunstwerk in den Kontext von Raum und Zeit. Nach Goodman kann ein und derselbe Gegenstand einmal als Kunstwerk Wirkung entfalten, in anderer Umgebung aber als reiner Nutzgegenstand. Es sind also nicht die dem Gegenstand zugehörigen Eigenschaften, die einen Gegenstand zum Kunstwerk machen, sondern die zeitlichen, räumlichen und handlungsbedingten Kontexte, in denen er sich wiederfindet. Ein reales Beispiel wäre der berühmte „Springbrunnen“ von Marcel Duchamp, der seinen Weg vom Pissoir ins Museum und vom Status eines banalen Gegenstands zu einem Kunstwerk gefunden hat.
Die Wirklichkeit sichtbar machen
Der Übergang von einem Status zum anderen untersteht dabei nicht etwa der Laune oder Willkür des Einzelnen – egal ob es sich um einen sorglosen Sammler oder einen provokativen Künstler handelt–, sondern der jeweiligen Funktion des Gegenstands. Wesentlich für die Funktion eines Kunstwerks ist nach Nelson Goodman seine Fähigkeit, zu „symbolisieren“ oder auch „als Zeichen zu fungieren“. Ein Kunstwerk „funktioniert“, indem es mit den Mitteln der „Symbolisierung“ bestimmte Aspekte der Wirklichkeit sichtbar macht und so beim Betrachter ein Echo, Emotionen oder Fragen oder neue Sichtweisen hervorruft. Es erzeugt und zeigt eine bestimmte Weltversion, genauso wie auch wissenschaftliche Theorien die Wirklichkeit unter einem bestimmten Blickwinkel zeigen, indem sie bestimmte Aspekte hervorheben und andere in den Hintergrund treten lassen.
Nelson Goodmans ästhetische Theorie fügt sich in eine relativistische Weltsicht, nach der es verschiedene, ja sogar einander widersprechende „wahre Versionen“ der Welt geben kann. Der Wahrheits- oder Falschheitsgehalt der jeweiligen Versionen lässt sich gemäß dieser Philosophie nicht mehr in Bezug auf eine angeblich unveränderliche, vor aller Symbolisierung liegende Realität überprüfen – solch eine Realität ist nach Goodman eine unsinnige philosophische Abstraktion.
Was nicht heißen soll, dass man sich als Kenner nicht auch weiterhin an der edlen Schönheit eines wahren, also echten Rembrandt erfreuen darf: ob als Gemälde an der Museumswand oder aber als wärmesicherndes Fenster mit ganz besonders gelungener Bemalung. •