Acht Perspektiven auf Mut
Was bedeutet eigentlich Mut? Acht philosophische Annäherungen von Platon bis Foucault.
Platon: Der Mut als Wissen
Platon erkundet in seinem Dialog Laches verschiedene Formen des Mutes, und geht hierbei von Mut als einer Tugend, aber auch als einem Wissen aus. Bei diesem intellektualistischen Konzept von Mut ist das faktisch Richtige auch immer mit dem moralisch Richtigen verknüpft: Mutig sein heißt zu wissen. Am Ende des Dialogs beschreibt er den Mut als „nicht nur ein Wissen des zu Fürchtenden und des zu Wagenden […], sondern auch das, was geschieht und was geschehen ist und was wie immer sich verhalte“. Der Mutige geht bewusst ein Risiko ein, ohne sich von den irrationalen Ängsten, die die meisten Menschen überkommen, lähmen zu lassen. Doch vollkommen definieren kann Platon den Mut nicht; der Dialog endet in einer nicht aufgelösten Aporie, und regt so dazu an, selbst darüber nachzudenken, was es eigentlich heißt, mutig zu sein.
Aristoteles: Der Mut als Mäßigung
Für Aristoteles ist Mut eine Tugend und wie jede Tugend ein Mittelweg, eine vorsichtige „Mäßigung“ zwischen den beiden Exzessen „der Furcht und der Tollkühnheit“. Wie er in der Nikomachischen Ethik schreibt, wird „wer alles flieht und fürchtet und nichts erträgt, […] feige, dagegen wer gar nichts fürchtet und gegen alles angeht, tollkühn.“ Aber die Dinge sind zum Glück nicht festgelegt. Mut kann durch Gewohnheit erlernt werden: „Indem wir uns gewöhnen, Gefahren […] zu bestehen, werden wir mutig, und sind wir es geworden, werden wir am leichtesten Gefahren bestehen können.“
Descartes: Der Mut zur Tat
Für Descartes ist Mut eine „Leidenschaft“, eine spontane Reaktion der Seele auf eine bestimmte Situation, die der Körper erleidet. In Die Leidenschaften der Seele (1649) weist er darauf hin, dass der Mut eine Energie ist, die den Willen zur Handlung antreibt: „Der Mut als Leidenschaft und nicht als eine natürliche Gewohnheit oder Anlage ist eine gewisse Hitze oder Erregung, die die Seele mächtig zur Ausführung gewisser Dinge treibt, die sie vorhat.“ Doch wohlgemerkt: „Die Kühnheit ist eine Art des Mutes, welche die Seele zur Ausführung der gefährlichsten Dinge veranlasst.“
Kant: Der Mut zum Denken
Für Kant ist Mut gedankliche Selbstbestimmung und Selbstermächtigung: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ In Was ist Aufklärung? (1784) ermutigt Kant zu einer individuellen Entscheidung: die Entscheidung, sich ins Leere zu stürzen, ohne Orientierung, ohne Bevormundung, ohne Fixpunkt, um selbst zu denken. Dieser Mut kann zwar unangenehm sein, da es viel bequemer ist, in der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu verharren. Doch wollen wir wirklich frei sein, müssen wir diesen Schritt wagen.
Kierkegaard: Der Mut des Glaubens
Das Vorbild für Mut ist bei Kierkegaard nicht Odysseus oder Achilles, sondern Abraham, der bereit ist, seinen Sohn Isaak zu opfern, wenn Gott es von ihm verlangt: „ [E]s gilt zu sehn, wie groß das ist, was Abraham getan, damit der Mann sich über sich klar werden kann, ob er Berufung und Mut hat, solchermaßen versucht zu werden“ (Furcht und Zittern, 1843). Mut ist zunächst einmal der Mut des Glaubens: Mut, trotz allem zu glauben, wenn es keine Gewissheit gibt, wenn es keine Beweise gibt. Denn: „[…]der Mut des Glaubens [ist] der einzige demütige Mut[…].“
Nietzsche: Der Mut zur Grausamkeit
Für Nietzsche ist Mut die Kraft, die es uns ermöglicht, den unvermeidlichen Schmerz des Daseins zu ertragen. „Der Mensch aber ist das mutigste Tier: damit überwand er jedes Tier. Mit klingendem Spiele überwand er noch jeden Schmerz; Menschen-Schmerz aber ist der tiefste Schmerz“, weil der Mensch empathisch ist. Er hat Mitleid mit anderen. Doch: „Mut ist der beste Totschläger: der Mut schlägt auch das Mitleid tot“, schloss er in Also sprach Zarathustra (1883-85). Der Mutige muss folglich stets die Verantwortung übernehmen, bis hin zu seiner eigenen Grausamkeit.
Camus: Der Mut, man selbst zu sein
Mut ist ein Schlüsselbegriff in Camus' Denken. Er bedeutet zunächst die Klarheit des Menschen angesichts der Absurdität der Welt, wie er in L'Envers et l'Endroit (1937) erklärt: „Der große Mut besteht weiterhin darin, die Augen vor dem Licht wie vor dem Tod offen zu halten.“ Was bleibt dem Menschen in dieser sinnentleerten Welt? Zunächst einmal der Mut, zu dem einzigartigen Wesen zu stehen, das er ist: „Anders zu sein ist weder eine gute noch eine schlechte Sache. Es bedeutet lediglich, dass man mutig genug ist, um man selbst zu sein.“
Foucault: Der Mut zur Wahrheit
Mut ist zunächst „Mut zur Wahrheit“, so der Titel der letzten Vorlesung von Michel Foucault am Collège de France. Das ist es, was der Philosoph unter dem Namen Parrhesia zu denken versucht — der Mut zu sagen, was man denkt, alles, was man denkt, trotz der Risiken, die dies für uns selbst mit sich bringt. „Dieser Mut kann jedoch in einer Reihe von Fällen auch eine Maximalform annehmen, wenn man für das Aussprechen der Wahrheit nicht nur akzeptieren muß, daß dadurch die persönliche, freundschaftliche Beziehung in Frage gestellt wird, die man zu der Person unterhält, [mit der] man spricht, sondern wenn es dazu führt, sein eigenes Leben zu riskieren.“ •
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