Alexander Kluge: „Philosophieren ist für den Menschen wie für den Maulwurf das Graben“
Der Filmemacher, Schriftsteller und Intellektuelle Alexander Kluge erläutert im Interview, warum wir einen neuen Aktualitätsbegriff brauchen, das Silicon Valley „Seelengeiz“ erzeugt und man die Phänomenologie des Geistes in Tübinger Mundart vorlesen sollte.
Herr Kluge, in einem Radiogespräch mit Arnold Gehlen aus dem Jahr 1964 erinnerte Theodor W. Adorno daran, dass der Begriff der modernen Öffentlichkeit von John Locke geprägt wurde und sich dabei zunächst gegen die Geheimhaltungspraktiken der Aristokratie wandte. Deshalb, so Adorno, sei der Begriff der Öffentlichkeit immer auch als Forderung zu verstehen. Stimmt das?
Öffentlichkeit ist in der Tat eine republikanische Forderung. Aber ich würde es noch ein wenig komplexer beschreiben. Denn in der Moderne bildet Öffentlichkeit immer ein Begriffspaar mit der Erfahrung. Jeder Mensch macht Erfahrungen, zum einen im Intimbereich, etwa in der Familie. Zum Zweiten sammelt man sie im Bereich der Arbeit. Ohne Öffentlichkeit bleibt Erfahrung ohne hinreichendes Selbstbewusstsein. Selbstbewusste Erfahrung braucht den Dialog, den Austausch in einer intakten (und nicht bloß von Medien „verwalteten“) Öffentlichkeit. An dem, was andere sagen und denken, prüfe ich meine eigenen Erfahrungen. Dadurch kann ich die starken Ausschläge im Subjekt eichen. Wenn ich etwas öffentlich ausdrücken will, eine Erfahrung öffentlich mitteilen möchte, besteht der Unterschied zu den anderen Sphären also in einem veränderten Aggregatzustand des Selbstbewusstseins.
Nun ist die Vorstellung des öffentlichen Sprechens oft mit einer spezifischen Rationalität verbunden. Öffentliches soll – zumindest dem regulativen Ideal nach – sachlich sein. Doch welche Rolle spielen Wünsche, Sehnsüchte, Begierden beim öffentlichen Sprechen?
Sie gehören ganz gewiss dazu, sind sogar ein Kern der Öffentlichkeit. Nur existiert eben keine direkte Gegenüberstellung von Einzelmensch und Gesellschaft, die Gesellschaft ist keine Person, mit der Sie per Du sein können. Für mich, der 1945 dreizehn Jahre alt war, gehörte ein Bombengeschwader zur Öffentlichkeit des Krieges. Mit dem kann ich aber nicht sprechen, das hört nicht auf mich. Ebenso gibt es zwischen Menschen in Bergkarabach und den Kampfdrohnen, die über sie hinwegfliegen und von weit her gesteuert werden, keinen Dialog. Es gibt auf diese Weise nichtmenschliche Öffentlichkeiten, die ebenfalls wie Öffentlichkeiten prägend sind. Denn jede Konfrontation zwischen objektiv und subjektiv bildet eine Öffentlichkeit, ob man will oder nicht. Wenn Adorno nun sagt, dass die Öffentlichkeit eine Forderung ist, dann immer auch eine, die aus Artikel 5 des Grundgesetzes folgt und dementsprechend mit einem Grundrecht verbunden ist. Und dieses besteht nicht nur darin, dass der Staat sich eines übermäßigen Eingriffs enthält und seine arkanen Bereiche öffnet, sondern auch darin, dass Gewaltfreiheit garantiert wird, sich also Karikaturisten nicht fürchten müssen, dass sie wie die Redakteure von Charlie Hebdo von einer Mörderbande hingerichtet werden. Aber gerade das zeigt im Umkehrschluss: Öffentlichkeit ist stets auch ein Kampfobjekt.
Adorno hatte eine hochgradige Abneigung gegen jede Form der Gewalt, was mutmaßlich auch ein Grund dafür war, warum er bei der studentischen Besetzung des Instituts für Sozialforschung im Jahr 1969 die Polizei kommen ließ. Gibt es Immunisierungsstrategien dafür, dass die Öffentlichkeit nicht verroht und dementsprechend in Gewalt umschlägt?
Mit Gewissheit, aber die erfordern Arbeit. Wenn Sie sich an den Rand der Öffentlichkeit stellen, werden sie kaum Einfluss darauf haben. Sich als Betrachter aufzuführen, ist eine intellektuelle Gewohnheit. Bei Hans Blumenberg gibt es das Beispiel eines Museumsbesuchers, der vor Géricaults Floß der Medusa steht und denkt, er stehe dem Bild gegenüber. Tatsächlich, sagt Blumenberg, sind wir aber „längst eingeschifft“. Wir sind derselben Gewalt ausgesetzt, die sich auf dem Bild darstellt. Und sobald man die Gegenwart von Gewalt spürt, muss man nach Gegengiften und Notausgängen suchen, was aber wiederum voraussetzt, die Gewalt exakt zu studieren. Und genau das ist Kritische Theorie. Diese können Sie dann aber auch weiter fassen, denn sie bezieht sich ja selbst auf ältere Philosophie, etwa auf Marx und Freud. Und man könnte hier sogar noch Montaigne einbeziehen, ja selbst Ovid. Denn die Kritische Theorie ist ein Rhizom, sie besitzt ein ganz reiches Wurzelwerk. War das Institut für Sozialforschung ein Versuch, den aufkommenden Faschismus zu beantworten und sich gegen die röhrende Gewalt zu stellen, so ist das heute genauso relevant. Aber wir können die Kritische Theorie noch um die Gedanken Luhmanns oder der französischen Philosophie ergänzen. Die Kritische Theorie kann Koalitionen des Denkens bilden, ohne dabei ihre Radikalität zu verlieren.
Wenn man die Methode der Kritischen Theorie nun einmal versuchen würde für eine Analyse der heutigen Öffentlichkeit anzuwenden, wie könnte das aussehen? Denn die zeitgenössische Öffentlichkeit wird ja im erheblichen Maße im Silicon Valley kuratiert – und zwar von Facebook, Google oder Twitter.
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