Kritische Theorie – Gibt es ein richtiges Leben im falschen?
Sonderausgabe 19 - 2021Ob politische Radikalisierung, Klimakrise oder soziale Ungleichheit – wer die Krisen unserer Zeit nicht nur verstehen will, sondern auch Möglichkeiten der Veränderung sucht, kommt an der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule nicht vorbei. Die aktuelle Sonderausgabe versammelt die Stimmen der wichtigsten Vertreter dieser politisch engagiertesten Philosophie der letzten Jahrzehnte, von den Gründern Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bis zur heutigen Generation mit Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Nancy Fraser, Eva von Redecker. Und mit Jürgen Habermas im exklusiven großen Interview.
Sonderausgabe direkt bestellen!
„Es gibt keine unbeweglichen Identitäten“
„Adorno war eine Person, die nicht nicht denken konnte. Er stand fast immer unter Strom. Das hatte fast etwas Schmerzhaftes.“ Im großen Interview erinnert sich Jürgen Habermas an Theodor W. Adorno – und spricht über die großen Themen unserer Zeit: Corononakrise, Rechtsruck, Identitätspolitik und die Zukunft Europas.
„Im Kapitalismus sind die Krisen schon angelegt“
„Die Kritische Theorie blickt auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit mit dem Verdacht, dass diese nicht einfach nur Pech waren, sondern in den Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Lebensweise angelegt sind. Sie geht in diesem Sinne, wie Horkheimer sagt, nicht auf diesen oder jenen Missstand, sondern aufs Ganze“, meint Rahel Jaeggi im Interview.
„Arbeit und Demokratie sind Gegenwelten“
In seinen aktuellen Analysen widmet sich Axel Honneth Fragen der Arbeit: „Es fehlt in der Arbeitswelt oft an genau der Teilnahme und Mitsprache, die in der demokratischen Öffentlichkeit von uns erwartet werden, weshalb die Arbeitswelt bei den Beschäftigten nicht die Fähigkeit zur Willensbildung heranreifen lässt.“
„Ein Rhizom mit reichem Wurzelwerk“
Im Gespräch denkt der Intellektuelle, Philosoph, Künstler, Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge über das Potenzial der Kritischen Theorie und den Begriff der Öffentlichkeit nach: „Im Silicon Valley wird nicht unsere Arbeitskraft entfremdet, sondern ein Stück Wahrnehmungskraft. Sie wird angeeignet, akkumuliert und tritt dann als Ware uns gegenüber.“
„Revolutionen entstehen aus Sehnsucht nach Lebenszeit“
Eva von Redecker sucht nach den widerständigen Zwischenräumen, dem utopischen Potential der Kritischen Theorie: „Sobald sich die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Behutsamkeit, Zeit – also nach Lebenszeit von einem selbst und von ökologischen Zusammenhängen – bahnbricht, kann der Kapitalismus dem nicht mehr gerecht werden. Dann entsteht eine revolutionäre Kraft.“
Sonderausgabe direkt bestellen!
Vernunft
Jürgen Habermas: „Es gibt keine unbeweglichen Identitäten“
Der bekannteste lebende Vertreter der Kritischen Theorie ist eine der einflussreichsten intellektuellen Stimmen der Gegenwart. Im Interview erinnert sich Jürgen Habermas an Theodor W. Adorno – und spricht über die großen Themen unserer Zeit: Coronakrise, Rechtsruck, Identitätspolitik und die Zukunft Europas.

Theodor W. Adorno (1903–1969)
Der Begründer und bis heute ikonischste Vertreter der Kritischen Theorie ist eine bemerkenswert widersprüchliche Persönlichkeit. Er schreibt den Intellektuellen „unverbrüchliche Einsamkeit“ vor, wird jedoch in den 1960er-Jahren auch in den Massenmedien Radio und Fernsehen zum Star; und als Studierende 1969 das Frankfurter Institut besetzen, lässt der radikal linke Denker es von der Polizei räumen

Eva-Maria Ziege: „Die Barbarei der Nazis verstehen“
Die „Dialektik der Aufklärung“ ist der wohl faszinierendste und eigenartigste Text der Kritischen Theorie. Doch ist er auch dicht und entzieht sich einem leichten Zugang. Die Soziologin Eva-Maria Ziege erklärt die Entstehungsgeschichte und die Grundbegriffe des legendären Klassikers

Frankfurt For Future
In der Dialektik der Aufklärung stellen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno einen Zusammenhang zwischen totalitärem Denken und der Beherrschung der Natur her. Das ist mit Blick auf die Klimakrise gerade heute von großer Aktualität.

Charles Clavey: „Autorität ist eine Frage der Psychologie, nicht der Ideologie“
Die Verbindung von Theorie und Praxis ist für die Frankfurter Schule von Anfang an zentral. Horkheimer und Adorno verfassten in den 1940er-Jahren in den Vereinigten Staaten nicht nur die höchst theoretische „Dialektik der Aufklärung“, sondern leiteten auch empirische Forschungsprojekte, allen voran die interdisziplinär angelegten „Studien zum autoritären Charakter“

Ideologie
Max Horkheimer (1895–1973)
Als langjähriger Direktor des Instituts für Sozialforschung und Verfasser von programmatischen Schriften bestimmte Max Horkheimer dessen Richtung über Jahre wesentlich. Auch für das Weiterleben des Instituts im amerikanischen Exil ist er maßgeblich verantwortlich

Jan Rehmann: „Ideologie ist Identitätsdenken“
Die Ideologie ist eines der zentralen Motive der Kritischen Theorie. Während Max Horkheimer die Vernunft anfangs als umkämpftes Feld beschreibt, ist zunehmend vom totalen Verblendungszusammenhang die Rede. Was wir heute daraus über die Kritik der Verhältnisse lernen können, erläutert Jan Rehmann im Interview.

Kritik der Kritik
In ihrer langen Geschichte sah sich die Kritische Theorie immer wieder mit Kritik aus verschiedenen Denkrichtungen und konträren politischen Lagern konfrontiert. Warum und worüber Karl Popper, Arnold Gehlen und Niklas Luhmann sich mit der Frankfurter Schule stritten

Rahel Jaeggi: „Im Kapitalismus sind die Krisen schon angelegt“
Rahel Jaeggi sieht in unserer kapitalistischen Lebensform den Grund für die zahlreichen Krisen der Gegenwart. Im Interview fordert sie mehr Demokratie und erklärt, warum die Kritische Theorie keine Utopien entwirft.

Stuart Jeffries: „Eine Rebellion der Söhne“
Die Geschichte der frühen Frankfurter Schule lässt sich auch als Auflehnung von Söhnen gegen die materialistische Sicherheit ihrer Väter erzählen, ja, sogar als ödipalen Kampf

Verdinglichung
Herbert Marcuse (1898–1979)
Unbeugsamer kritischer Denker, Idol der Studierendenproteste von 1968: Herbert Marcuse schaffte es wie kein anderer seiner Kollegen, sein kritisches Denken mit politischem Aktivismus in Einklang zu bringen. Seine Werke faszinieren durch ihren utopischen Gehalt und durch ihr Drängen auf die Befreiung der Gesellschaft von den Zwängen des Kapitalismus

Axel Honneth: „Arbeit und Demokratie sind Gegenwelten“
Arbeit steht heute wie in den Anfängen der Kritischen Theorie im Zentrum der Kritik. Während Adorno und Horkheimer von Verdinglichung und Entfremdung sprachen, sucht der Philosoph Axel Honneth nach neuen Begrifflichkeiten: Die Arbeitswelt sollte in einer Form strukturiert sein, die Demokratie und Mitsprache befördert und ihnen nicht entgegensteht

Wo alles begann
Heute vor hundert Jahren wurde das Institut für Sozialforschung gegründet, die Geburtsstätte der Kritischen Theorie. In den Tagen der frühen Bundesrepublik stand das Haus im Spannungsfeld politischer Debatten und wurde von der Studentenbewegung besetzt. Der neue Direktor Stephan Lessenich will es wieder mehr in gesellschaftliche Debatten einbringen.

Resonanz statt Entfremdung
Ein entfremdetes Weltverhältnis bewirkt, dass wir uns isoliert und abgeschnitten von der Welt fühlen, dass wir diese und uns selbst nicht als lebendige Entitäten erleben. So verstanden ist der Begriff „Entfremdung“ auch heute noch hilfreich für eine kritische Zeitdiagnose. Im Sinne eines gelingenden Weltverhältnisses müssen wir ihm das Prinzip der Resonanz entgegensetzen

Kultur
Wer war Walter Benjamin?
Er ist eine der faszinierendsten Figuren im Umkreis der Frankfurter Schule: Nah vertraut mit Adorno, wurde Walter Benjamin, der heute vor 130 Jahren zur Welt kam, vom Institut für Sozialforschung nicht nur finanziell unterstützt, sondern er beeinflusste es auch entscheidend.

Alexander Kluge: „Philosophieren ist für den Menschen wie für den Maulwurf das Graben“
Der Filmemacher, Schriftsteller und Intellektuelle Alexander Kluge erläutert im Interview, warum wir einen neuen Aktualitätsbegriff brauchen, das Silicon Valley „Seelengeiz“ erzeugt und man die Phänomenologie des Geistes in Tübinger Mundart vorlesen sollte.

Würde Adorno Netflix gucken?
Mit dem Begriff der „Kulturindustrie“ kritisiert Adorno, dass Kunst zur Ware wird. Er denkt an Massenproduktion in Hollywood und die Verbreitung von Jazz über das Radio. Doch aus heutiger Sicht kommt ein anderes Beispiel in den Sinn: Netflix als Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts.

Philipp Felsch: „Die Kritische Theorie funktionierte als BRD noir“
Nach ihrer Rückkehr aus dem US-Exil avancierten Horkheimer und Adorno zu intellektuellen Stars der Bundesrepublik. Kulturhistoriker Philipp Felsch erklärt, warum die Kritische Theorie durch ihre Zeit in LA einen Erfahrungsvorsprung besaß, alsbald einen Habitus der universellen Betroffenheit entwickelte und sich die Studenten schließlich von ihr abwandten.

Suhrkamp Culture
Damit philosophische Ideen in der Breite der Gesellschaft bekannt werden, müssen sie veröffentlicht werden. Die Geschichte der philosophischen Wirkung ist demnach auch eine Verlagsgeschichte, und die Kritische Theorie ist hierzulande eng und über die Generationen hinweg mit dem Namen Suhrkamp verbunden.

Utopie
Erich Fromm (1900–1980)
Erich Fromm ist nicht zuletzt maßgeblich für die Synthese marxistischer Theorie und freudscher Psychoanalyse in der Kritischen Theorie verantwortlich. Seine populärwissenschaftlichen Werke, die er in den Jahren nach dem Bruch mit dem Institut für Sozialforschung verfasst, avancieren zu Bestsellern für eine begeisterte Leserschaft

Nancy Fraser: „Wir brauchen einen besseren Populismus“
Nancy Fraser, eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart, erzählt, wie sie Kritische Theorie mit Feminismus verbindet und wie kritische Gesellschaftsanalyse heute mit Aktivismus zusammengehen kann. Und warum progressive Strömungen nicht isoliert voneinander funktionieren können.

Eva von Redecker: „Revolutionen entstehen aus Sehnsucht nach Lebenszeit“
Zahlreiche zeitgenössische Protestbewegungen fasst Eva von Redecker als „Revolutionen für das Leben” auf. Indem sie sich gegen Artensterben, Femizide sowie Naturzerstörung wenden, stellen sie der kapitalistischen Ausbeutung utopische Alternativen entgegen.
