Wo alles begann
Heute vor hundert Jahren wurde das Institut für Sozialforschung gegründet, die Geburtsstätte der Kritischen Theorie. In den Tagen der frühen Bundesrepublik stand das Haus im Spannungsfeld politischer Debatten und wurde von der Studentenbewegung besetzt. Der neue Direktor Stephan Lessenich will es wieder mehr in gesellschaftliche Debatten einbringen.
Von der Dachterrasse aus kann man einen Teil der Frankfurter Skyline sehen. Die Oleandersträucher blühen. Axel Honneth hat sie angeschafft. Der Oleander und die Kaffeemaschine, das seien seine größten Errungenschaften beim Institut gewesen, habe er bei seinem Abschied 2018 gesagt. Seit Juli dieses Jahres ist der Soziologe Stephan Lessenich der neue Mann an der Spitze des Hauses. Er war selbst erst wenige Male hier. Heute werden seine Umzugskartons geliefert. Die Wände in seinem Büro sind noch kahl. Die gewaltige Deckenlampe aus milchigem Glas will er loswerden. Bislang lehrte Lessenich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, nun ist er Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt und neuer Direktor des Instituts für Sozialforschung.
1923 als Forschungsinstitut des akademischen Marxismus gegründet, wurde das Haus zur Keimzelle der Kritischen Theorie. Nachdem es 1933 von der Gestapo aufgelöst worden war, wanderte es ins Exil in die Vereinigten Staaten und kehrte in den 1950er-Jahren nach Frankfurt in ein neues Gebäude zurück. Von hier aus beeinflusste die Sozialforschung die Studentenbewegung und politische Debatten in der Zeit der frühen Bundesrepublik, zum Beispiel über die Demokratisierung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg. „Was einem immer wieder begegnet, ist der gute Ruf des Instituts“, sagt Lessenich. „Es ist eine Adresse für viele Menschen, nicht nur im wissenschaftlichen Feld.“ Viele verbinden mit dem Haus die Namen seiner ehemaligen Akteure: Adorno, Horkheimer, Honneth. „Diese Namen sind mittlerweile symbolisches Kapital. Das ist toll, bedeutet aber auch die Verantwortung, es zu erneuern. Es kann keine Strategie sein, immer vom Alten zu zehren.“
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