Eva-Maria Ziege: „Die Barbarei der Nazis verstehen“
Die „Dialektik der Aufklärung“ ist der wohl faszinierendste und eigenartigste Text der Kritischen Theorie. Doch ist er auch dicht und entzieht sich einem leichten Zugang. Die Soziologin Eva-Maria Ziege erklärt die Entstehungsgeschichte und die Grundbegriffe des legendären Klassikers
Ein Schlüsseltext der Kritischen Theorie ist die „Dialektik der Aufklärung“, die in den 1940er-Jahren veröffentlicht wurde. Können Sie erklären, wie es zu diesem Buchprojekt kam?
Horkheimer hatte schon seit den 1930er-Jahren den Plan, ein grundlegendes Buch zu schreiben; er sprach vom Dialektik-Projekt. Es ging dabei um die philosophische Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie. Zunächst war jedoch gar nicht ausgemacht, mit wem er es verfassen würde. In den Jahren 1933 und 1934 hatten die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung Deutschland mehr oder weniger geschlossen verlassen müssen. Herbert Marcuse oder auch Erich Fromm kamen als Partner infrage. Von Fromm distanzierte Horkheimer sich im Laufe der späten 1930er-Jahre, mit Marcuse kamen die Dinge nicht recht in Gang. Als Adorno 1938 in die Vereinigten Staaten kam, wurde er sehr schnell zu dem geeigneten Gegenüber. In den Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg veränderte sich zunehmend das Nachdenken beider über das Thema des Buches. Geschrieben wurde es vom Ende des Jahres 1941 bis ins Frühjahr 1944. Im Herbst 1941 war die Entscheidung gefallen, die Untersuchung über die abendländische Geschichte der Zivilisation und ihren Zerfall in einer Analyse des Antisemitismus gewissermaßen zu „kristallisieren“. Vor allem Adorno versprach sich davon eine Konkretion für das gesamte Werk. Ausschlaggebend für die Richtung des Buches waren sicher die katastrophalen zeitgeschichtlichen Entwicklungen. Durch die lange Zeit im Exil konnten die Autoren eine Art Außenperspektive auf Europa und das Deutsche Reich entwickeln, aber auch ihre Erfahrungen im amerikanischen Exil waren prägend. Mit Forschungsprojekten, die das Institut für Sozialforschung seit den 1930er-Jahren durchführte, hatten sie sich außerdem eine aufschlussreiche empirische Grundlage verschafft, und über die Verfolgung und Vernichtung der Juden in Europa waren sie durch Kontakte zu amerikanisch-jüdischen Organisationen gut informiert.
Was war der Anspruch des Buches?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Levi-Strauss und die Barbarei
„Barbarei?“ Gewöhnlich assoziiert man den Begriff mit plündernden Horden in der europäischen Antike oder mit den Nazis. Gegenwärtig dringt er durch den Krieg erneut in den öffentlichen Diskurs ein. Zu Recht? Claude Lévi-Strauss plädierte bereits 1952 für kulturellen Relativismus und einen Verzicht auf den Begriff „Barbarei“.

Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“
Aufklärung und Mythos sind in gewisser Weise das Gleiche, behaupten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1944), dem Hauptwerk der Kritischen Theorie. Klingt widersinnig? Wir helfen weiter.

María Zambrano
In unserer Rubrik Klassiker weltweit stellen wir prägnant Philosophen vor, die in anderen Teilen der Welt als Klassiker gelten, hierzulande allerdings weniger bekannt sind. Diesmal: María Zambrano (1904-1991), Antifaschistin, Exilantin und Denkerin der „dichterischen Vernunft“.

Eva Illouz: „Die Idee der Liebe ist im Niedergang begriffen"
Die Soziologin Eva Illouz, die Liebe in Zeiten des Kapitalismus zu ihrem Lebensthema gemacht hat, feiert heute ihren 61. Geburtstag. Hellsichtig analysiert sie in diesem Interview aus dem Jahr 2019, wie sich Ökonomie und Romantik verbinden – und mit welchen Folgen.

Eva Illouz: "Frauen sind die großen Verliererinnen der sexuellen Befreiung"
Die gegenwärtige Debatte um sexualisierte Gewalt zeigt, dass wir über die Revolution der 1960er-Jahre neu nachdenken müssen: Das ist die überraschende These von Eva Illouz. Die französisch-israelische Soziologin und Philosophin über Weiblichkeit als Ware, #metoo und die Möglichkeit einer neuen Erotik
Rückfall in die Barbarei
Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs versuchte Sigmund Freud das unfassbare Geschehen zu verstehen. Ein Textauszug aus dem Jahr 1915, der uns Erinnerung und Warnung zugleich sein sollte.

Michael Jäckel: „Das Warenhaus diente als Schaufenster in die Welt“
Vor kurzem kündigte Galeria Karstadt Kaufhof die Schließung von fast 50 Filialen an. Das scheint indes nur ein weiterer Schritt in einem bereits länger andauernden Niedergang jener Warenhäuser zu sein, die Walter Benjamin einst „den letzten Strich des Flaneurs“ nannte. Der Soziologe Michael Jäckel erläutert die Entstehungsgeschichte der Warenhäuser, erklärt die Gründe für ihren Niedergang und warnt vor einer neuen „Unwirtlichkeit unserer Städte“.

Marie-Luisa Frick: „Man sollte Selbstdenken nicht undifferenziert heroisieren“
Corona und Terror rufen die Ideale der Aufklärung wieder auf den Plan und stellen die Demokratie gleichzeitig hart auf die Probe. Die Philosophin Marie-Luisa Frick, deren Buch Mutig denken (Reclam) gerade erschienen ist, erklärt vor diesem Hintergrund, was wir heute noch von den Aufklärern lernen können.
