Jan Rehmann: „Ideologie ist Identitätsdenken“
Die Ideologie ist eines der zentralen Motive der Kritischen Theorie. Während Max Horkheimer die Vernunft anfangs als umkämpftes Feld beschreibt, ist zunehmend vom totalen Verblendungszusammenhang die Rede. Was wir heute daraus über die Kritik der Verhältnisse lernen können, erläutert Jan Rehmann im Interview.
Herr Rehmann, Max Horkheimer verfasste 1937 den Text Traditionelle und kritische Theorie mit der Intention, zwei verschiedene Wissenschaftsverständnisse zu kontrastieren. Von der „traditionellen Theorie“ wird die gesamte wahrnehmbare Welt als „Inbegriff von Faktizitäten“ wahrgenommen, er dagegen sieht darin das „Produkt der allgemeinen Praxis“. Können Sie diese zwei Positionen erläutern?
In diesem wichtigen Gründungsdokument bezeichnet Horkheimer die traditionelle Theorie als ein Denken, das sich darauf beschränkt, Tatsachen zu registrieren und dann nach Prinzipien zu ordnen. Entscheidend ist, dass diese Tatsachen als fertige Produkte hingenommen werden, ohne dass ihre Entstehung analysiert wird, ohne dass der Gesamtzusammenhang, in dem sie funktionieren, begriffen wird, und ohne dass sie dialektisch – das heißt in ihrer Bewegung und Veränderung – verstanden werden. Gegen dieses positivistische Realitätsverständnis erhebt die Kritische Theorie den Anspruch, die Wirklichkeit als Produkt gesellschaftlicher Praxis zu analysieren. In dem abgedruckten Textabschnitt wird dies sehr differenziert dargestellt: Zum einen ist die wahrgenommene Wirklichkeit geschichtlich konstituiert – da gibt es die schöne Formulierung: „die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich“ –, und zum anderen ist auch unsere Wahrnehmung, die Art, wie wir sehen, hören und fühlen, durch den gesellschaftlichen Lebensprozess geformt.
Sowohl in diesem Text als auch generell in der Kritischen Theorie spielt die Ideologie eine prominente Rolle. Was hat es mit dem Begriff auf sich?
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