Alice Kaplan: „Algerien prägte die Textur seiner Arbeit“
Camus gilt vielen als französischer Autor. Dabei war Algerien, Ort seiner Kindheit, ein ebenso starker Bezugspunkt. Wie prägte Algerien sein Schreiben? Wie sprach er über den Kolonialismus? Verkannte er dessen Spuren im eigenen Denken? Ein Gespräch mit Alice Kaplan.
Philosophie Magazin: Frau Kaplan, Albert Camus wird für seine Haltung zu Algerien, insbesondere zur Frage der Unabhängigkeit, sowohl gepriesen als auch kritisiert. Wie sah die breitere Debatte aus, an der Camus damals teilhatte?
Alice Kaplan: Genau genommen gibt es viele Debatten um Camus und Algerien. Als der junge Camus sich für zwei Jahre der Kommunistischen Partei anschloss, war es seine Aufgabe, Muslime für sie anzuwerben. Doch er empfand es als Verrat, dass die Partei ihr antikolonialistisches Engagement aufgab und sich ganz dem drohenden Krieg zuwandte. Als Camus 1945 nach Algerien zurückkehrte, hatten französische Truppen gerade ein entsetzliches Massaker an muslimischen Algeriern im Osten des Landes verübt. Er war der einzige europäische Journalist, der dieses Blutbad klar benannte. 1956 reiste er nach Algier, um dort mit einer, wie er glaubte, gemäßigten Koalition zu diskutieren und zu einem Ende der Kriegshandlungen gegen die Zivilbevölkerung aufzurufen. Dafür erhielt er Morddrohungen von pro-französischen extremen Rechten in Algerien. Aber der große Konflikt, von dem meistens die Rede ist, ist der zwischen Camus und der französischen Linken um Jean-Paul Sartre und Francis Jeanson, die beide bedingungslose Unterstützer des Front de Liberation Nationale waren. Der FLN, der auf den französischen Terror seinerseits mit Gewalt antwortete, gab im Unabhängigkeitskampf schon bald den Ton an. Camus lehnte Gewalt grundsätzlich ab und wollte keine gewaltsame Revolution unterstützen. Er hatte wenig übrig für die Pariser Intellektuellen, die Nordafrika überhaupt nicht kannten und die ihm, der dort aufgewachsen war, trotzdem vorschreiben wollten, was er zu tun und zu denken habe.
Welche Zukunft sah Camus für Algerien?
Bei allem Antikolonialismus konnte sich Camus kein Algerien vorstellen, für das er einen Pass zur Einreise bräuchte. Er konnte sich kein nichtfranzösisches Algerien vorstellen. Er hoffte, Frankreich würde seine Politik ändern und nicht länger die böse und grausame Kolonialmacht sein, die es war. Er wünschte sich ein vivre ensemble der verschiedenen ethnischen Gruppen – eine Föderation von Berbern und Juden und Arabern, von all den Bevölkerungsteilen, die, so hoffte er, in Algerien zusammenleben könnten. Der tunesische Soziologe Albert Memmi entwirft in seinem Buch „Der Kolonisator und der Kolonisierte: zwei Porträts“ die Kategorie des „gutwilligen Kolonisators“ und ordnet dieser Kategorie auch Camus zu. Man kann sagen, die Position, die Camus in den 1950er-Jahren einnahm, war unhaltbar: Das System ließ sich nicht mehr reformieren.
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