Alles andere als obszön
Die kürzlich in El Higuerón (Spanien) entdeckte Penisskulptur ist mit ihren fünfzig Zentimetern die größte phallische Darstellung der Römerzeit. Warum verehren die Menschen seit Jahrtausenden das männliche Geschlechtsorgan?
Tantrische Lingams, griechische Phallus-Prozessionen zu Ehren von Dionysos, römische Amulette in Penisform, afrikanische Holzfiguren, die das aufgerichtete Geschlechtsteil zeigen, Felsgravuren mit ithyphallischen Darstellungen: Die Verehrung des Phallus existiert – wenn auch in unterschiedlicher Form – auf sämtlichen Erdteilen und in beinahe allen Kulturen. Wie das japanische Kanamara-Matsuri-Festival bezeugt, das seit 1969 wieder jährlich stattfindet, handelt es sich dabei keineswegs um ein bloßes Relikt der Vergangenheit. Woher kommt dieser nahezu universelle Kult?
Der französische Historiker Jacques-Antoine Dulaure stellte sich diese Frage bereits 1805 in Des Divinités génératrices, im Kapitel über den „Ursprung des Phallus und seines Kults“. Dulaure beginnt damit, jene Interpretationen zu widerlegen, die den „Ursprung ganz einfach der Verdorbenheit (corruption) und der Ausschweifung (libertinage) bestimmter Völker“ zugeschrieben haben. Auch wenn das Zeremoniell den meisten modernen Menschen als „unanständig“ erscheinen mag, war das „in der Antike nicht der Fall“. Der Anblick einer phallischen Darstellung „weckte keine obszönen Vorstellungen“, sondern wurde „im Gegenteil als einer der heiligsten Gegenstände“ verehrt.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Rache ohne Reue?
Seit 23 Jahren sitzt Giuseppe Grassonelli als Kopf eines Rachefeldzugs gegen die Cosa Nostra hinter Gittern. Da er eine Kronzeugenregel ablehnte, wird der mehrfache Mörder das Gefängnis nie wieder verlassen. Im Verlauf der Haft entdeckte der Sizilianer die Philosophie für sich, begann ein Studium, schloss es mit Auszeichnung ab. Wir haben Grassonelli, der lange Jahre in Hamburg lebte, im Gefängnis getroffen: Wie denkt er heute über seine Vergangenheit? Treffen mit einem Menschen, dem der Dialog mit Hegel und Nietzsche wichtiger wurde als alles andere
Die Natur des Notwendigen
Seit Jahrtausenden befassen sich Philosophen mit der Frage, was es für ein gutes Leben wirklich braucht. Fokus und Übung? Alles und noch mehr? So wenig wie möglich? Etwas ganz anderes als den Status quo? Wir stellen Ihnen fünf verschiedene Typen vor.

„Alles steht Kopf 2“: Sind alle unsere Gefühle gut?
Im Pixar-Film Alles steht Kopf 2 lernt die Teenagerin Riley neue Emotionen wie Neid und Scham kennen. Die Darstellung des jugendlichen Gefühlshaushalts bleibt jedoch erstaunlich lückenhaft. Ausgespart wird etwa die Bedeutung gesellschaftlicher Erwartungen und moralischer Vorstellungen.

Linke Orcas
Seit einiger Zeit attackieren Orcas Segelbote, zunächst an der Atlantikküste Spaniens und Portugals, seit Neuestem auch im Mittelmeer.

Döstädning
Viele Schweden fangen schon um die fünfzig damit an: Stück für Stück sortiert man überflüssige Dinge aus, um den Verwandten später keinen Krempel zu hinterlassen.
"Die Romantiker entdeckten das Kind in uns"
Schon wegen der hohen Kindersterblichkeit traten Eltern ihrem Nachwuchs in der Frühen Neuzeit deutlich distanzierter gegenüber. Unser heutiger Blick auf Kinder geht auf die Romantik zurück.
Foucault und die Selbstsorge
Selbstsorge: Das klingt nach Wellness und Achtsamkeitsübungen. Michel Foucault verstand jedoch etwas ganz anderes darunter. Mit Rückgriff auf die asketischen Praktiken der Antike entdeckte er eine „Ästhetik der Existenz“, in der es darum geht, der eigenen Persönlichkeit eine kunstvolle Form zu geben.

Eine andere Möglichkeit der Leidbewältigung: Karfreitagsprozessionen auf Sizilien
An vielen Orten in Spanien und Süditalien finden Karfreitagsprozessionen statt. In ihnen zeigt sich eine Möglichkeit der Leidbewältigung, die unserer Gesellschaft weitgehend fehlt: gemeinschaftlich, traurig und zugleich feierlich.
