Besser Gutes tun – aber wie?
Sie sind zwei der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart: Michael Sandel, dessen Vorlesungen über Gerechtigkeit weltberühmt sind, begründet die Moral auf einem Fundament von Werten, die sich der Logik des Marktes entziehen. Peter Singer wiederum ist ein großer Verfechter des Utilitarismus, der das Gemeinwohl durch Kalkül zu maximieren sucht. Im Dialog stellen beide Denker zwei diametral entgegengesetzte Konzeptionen des guten Lebens vor.
Peter Singer: Ich bin Utilitarist. Für mich ist eine Handlung gut, wenn deren Folgen die Lust der größtmöglichen Zahl von Personen erhöht oder das Leid von Betroffenen verringert. Und ich bin davon überzeugt, dass der Nutzen das einzige und letztliche Ziel des Lebens ist.
Michael Sandel: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, alle Güter, nach denen wir streben, auf einen einzigen Wert zu reduzieren, nämlich auf den Nutzen. Es gibt eine Vielzahl von moralischen Gütern. In manchen Situationen muss man herausfinden, um welchen Nutzen des Gutes es einem geht; in anderen zählt, dass Würde, Ehre oder Respekt garantiert werden; in wieder anderen geht es um den Charakter der Person, ihren Mut oder ihrer Feigheit. Die Vielfalt dieser moralischen Kriterien ist kostbar. Und es wäre ein Fehler, alles auf die Berechnung des Nutzens reduzieren zu wollen.
Singer: Wenn ich mich bemühe, alle moralischen Güter auf die Ebene des Nutzens zurückzuführen, so heißt das nicht, dass man im Alltag immer den Nutzen anvisieren sollte. Es kann passieren, dass Menschen, denen geraten wird, nur den Nutzen im Auge zu haben, dazu neigen, Fehler zu machen. Eine Berechnung der besten Konsequenzen ist prinzipiell immer möglich, doch wenn man versucht, dieses Kalkül mitten im Alltag zu betreiben – und nicht bloß als Philosoph – so wird man mit dringlichen Situationen konfrontiert, in denen man unter Druck steht, emotional mit denjenigen verbunden ist, mit denen man interagiert. In diesen Situationen kann es das Beste sein, den gewöhnlichen moralischen Regeln zu folgen, ohne ein utilitaristisches Kalkül anzustellen. Aber dennoch: Es bleibt das letztendliche Ziel des Lebens. Und die Frage ist nur, ob es direkt angestrebt werden sollte oder ob man es manchmal auch indirekt erreichen kann.
Sandel: Trotz dieser Relativierung stimme ich nicht mit der Idee überein, dass die Maximierung unseres Nutzens das Ziel unseres Lebens sei. Ich bin Aristoteliker: Ein gutes Leben besteht darin, zu lernen, Lust aus guten Dingen zu ziehen. Aber auch zu leiden, wenn es nötig ist. Was uns Lust bereitet, ist keine verlässliche Basis für das gute Leben, denn wir können auch bei schlechten Dingen Lust empfinden. Hier ein Einwand, den ich Ihnen unterbreiten möchte, Peter, da Sie ja ein großer Verfechter des Tierwohls sind: Es geht um Hundekämpfe. Nehmen wir an, dass in einer Gemeinschaft der Hundekampf sehr beliebt ist, dass er den Zuschauern große Freude bereitet. Wenn Sie die Lust der vielen Zuschauer gegen den Schmerz der wenigen Tiere abwägen, werden Sie keinen Grund haben, gegen diese Kämpfe zu sein. Dazu muss man das moralische Urteil fällen, dass solche Schauspiele intrinsisch grausam sind.
Singer: Meine Gründe, solche Kämpfe zu missbilligen, sind andere als Ihre. Ich würde nicht sagen, dass die Motive der Zuschauer intrinsisch schlecht sind. In meinen Augen handelt es sich um eine Verrohung des Sports: Die Leute können das Leid der Tiere nicht ermessen. Wenn die Leute Vergnügen daran finden, könnte es übrigens auch sehr gut sein, dass sich dies negativ auf die Möglichkeit auswirkt, eine mitfühlendere Haltung gegenüber Tieren einzunehmen – wofür ich mich ja mein Leben lang engagiere. Wie Sie möchte ich die Menschen davon überzeugen, nicht mehr an solchen Spektakeln teilzunehmen. Doch statt sich auf die Abwägung von Freude und Leid in einer bestimmten Situation zu konzentrieren, geht es vielmehr darum, auf einer umfassenderen Ebene eine humanere Gesellschaft zu fördern.
Sandel: Nehmen wir ein ähnliches Beispiel: die Gladiatorenkämpfe in der Antike. Sie könnten argumentieren, dass die Erlaubnis, solchen Schauspielen beizuwohnen, langfristig negative Folgen haben kann, indem Grausamkeit in der gesamten Gesellschaft legitimiert und gefördert wird. Aber gehen wir einmal davon aus, dass solche Vorführungen eine kathartische Wirkung haben und helfen, die Gewalt in der Gesellschaft einzudämmen und sogar zu reduzieren. Wenn die Abwägung von Lust und Leid für die größtmögliche Zahl an Personen nun für solche Kämpfe sprechen würde, blieben sie nicht ebenso verwerflich?
Singer: Wenn eindeutig bewiesen wäre, dass Gladiatorenkämpfe zu weniger Brutalität in der Gesellschaft führen, würde ich mich schwertun, mich für ihr Verbot auszusprechen. Doch auch wenn ich nicht glaube, dass es in der Realität so läuft, so ist es eine empirische Frage, und als Utilitarist darf ich mich nur von den Konsequenzen leiten lassen. Davon hängt alles ab.
Sandel: Ein Punkt, der uns unterscheidet, ist, dass Sie sich weigern zu sagen, dass die Lust an grausamen Schauspielen wie Gladiatorenkämpfen oder Hundekämpfen, pervers ist...
Singer: Perversion gehört in der Tat nicht zu meinem Wortschatz. Ich erinnere Sie daran, dass dies einer der Begriffe ist, die benutzt werden, um gegen Homosexualität zu argumentieren. Für ihre Gegner, die meinen, dass die natürliche Funktion von Sex die Fortpflanzung sei, musste Homosexualität als Perversion erscheinen. Ich lehne diese Argumentation ab, genau wie Sie. Aber ich ziehe daraus den Schluss, dass die Unterscheidung zwischen dem, was pervers ist oder nicht, fließend ist.
Sandel: Im Fall der Homophobie hatten wir es mit einer missbräuchlichen Verwendung des Begriffs Perversion zu tun. Bloß weil Einzelne die Unterscheidung zwischen gerecht und ungerecht falsch gebrauchen, sollten wir nicht darauf verzichten, uns moralisch auf die Kategorie der Gerechtigkeit zu beziehen. Das ist ein Problem, dem wir bei der Debatte um die gleichgeschlechtliche Ehe wieder begegnet sind. Indem die Befürworter ein moralisches Argument ins Feld führten – dass Ehe sich weder auf Familie noch auf Fortpflanzung beschränkt –, indem sie das menschliche Wohl betonten, um das es bei der Ehe geht, haben sie letztendlich gewonnen.
Singer: Es ist vernünftig zu argumentieren, dass der Ausschluss von der Ehe das Wohl der diskriminierten Homosexuellen schmälert. Es schadet ihnen, ohne anderen etwas Gutes zu bringen. Meiner Meinung nach war das das Ausschlaggebende.
Sandel: Sie sagen, dass der Ausschluss Homosexuelle weniger glücklich gemacht hat, ohne anderen etwas Gutes zu bringen. Aber in Gesellschaften mit ungerechter Diskriminierung – aufgrund von biologischem oder sozialem Geschlecht, Rasse usw. – ist die Mehrheit der Ansicht, dass ein Ende dieser Diskriminierung bei ihnen zu Unglück führen würde. In einer solchen Situation dürfen wir nicht lediglich die Benachteiligung betrachten, die die einen oder die anderen erleiden, sondern wir müssen ein moralisches Argument geltend machen, das über die Interessen von Individuen bzw. ihre Quellen von Freude und Schmerz hinausgeht. Denn in ungerechten Gesellschaften sind die Interessen ungerecht.
Singer: Für mich hat das Argument gegen diese Diskriminierungen mit der Zukunft zu tun. John Stuart Mill sprach davon, wie wichtig es sei, Menschen als „fortschrittliche“ Wesen anzusprechen. Solange Benachteiligungen aufgrund von Rasse, Geschlecht usw. bestehen, wird eine Minderheit ein schlechtes Leben haben. Um eine harmonischere Gesellschaft zu schaffen, muss mit solcher Benachteiligung Schluss sein. Das haben wir in Ländern gesehen, in denen diese Diskriminierungen abgeschafft wurden. In den 1960er Jahren hätte man in den Vereinigten Staaten argumentieren können, dass das Ende der Rassendiskriminierung die weiße Mehrheit unglücklich machen würde, da sie ihre Privilegien aufgeben musste. Doch sobald das Gesetz geändert wurde und sich neue Gewohnheiten bildeten, veränderten sich die Dinge, ohne dass es Beeinträchtigungen gab. Und wir haben eine bessere Gesellschaft.
Sandel: Die Frage ist, auf welcher Grundlage diese Benachteiligungen bekämpft und aufgehoben wurden. Ihre Sicht ist: Sofern die Beendigung der Diskriminierung zu größerem Glück für die diskriminierte Minderheit führt und das Glück der Mehrheit, die ihre Privilegien verliert, nicht übermäßig beeinträchtigt, sollte z.B. die White Supremacy abgeschafft werden, denn die Abwägung des Nutzens spricht für diese Maßnahme. Doch warum sollte man sein Urteil auf eine solche spekulative Hypothese stützen, statt zu argumentieren, dass die Rassentrennung ganz einfach ungerecht ist? Angenommen, die Anhänger der White Supremacy wären nach dem Ende der Rassentrennung so unglücklich gewesen, wie sie zuvor befürchtet hatten, würden Sie dann sagen, dass es ein Fehler war, die Rassentrennung aufheben zu wollen?
Singer: Ich bin mir nicht sicher, ob eine Generation ausreicht, um die Frage zu klären. Doch wenn dieses Unglücksgefühl bei den Kindern und Enkeln von ehemals privilegierten Weißen anhält, obwohl es der diskriminierten Minderheit besser geht, sollte dies berücksichtigt werden, um zu überlegen, ob es nicht angemessen ist, anders vorzugehen. Es gibt bei solchen Entwicklungen immer eine „ansteckende“ Dimension.
Sandel: Es geht nicht um Ansteckung, Peter, das ist eine schlechte Argumentationsweise!
Singer: Die andere Art zu argumentieren wäre: Man muss sich an Prinzipien halten, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen, auch wenn diese sehr langfristig gesehen negativ sind.
Sandel: Es gibt eine Alternative: Man könnte es sich zur Aufgabe machen, Rassisten zu erziehen, so dass sie den Rassismus überwinden.
Singer: Ich bin sehr dafür, jedoch aus dem Grund, den ich genannt habe: wegen der positiven Konsequenzen, die es haben würde, und nicht aufgrund eines intrinsischen Verständnisses von Gerechtigkeit, ohne den Zustand der Gesellschaft oder deren Fortschritt zu berücksichtigen.
Sandel: Meiner Meinung nach zeigen sich die Auswirkungen der utilitaristischen Kultur in der heutigen Welt in unserer Tendenz, dass wir die Bewertung der Beiträge jedes Einzelnen zum Gemeinwohl an den Markt auslagern. Zu diesem Ergebnis kommt mein neuestes Buch Vom Ende des Gemeinwohls. Seit einigen Jahrzehnten können wir beobachten, wie sich Ungleichheiten extrem verschärfen. Doch in unserer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft soll das Geld, das der Einzelne verdient, Ausdruck für seinen Beitrag zum Gemeinwohl sein. Ich behaupte, dass dies ein Irrtum ist. Was sagt uns der Markt heute über die jeweiligen Beiträge? Dass der Beitrag des Hedgefonds-Managers 800-mal wichtiger ist als der einer Krankenschwester oder eines Lehrers! Abgesehen von konventionellen Ökonomen sind sich alle einig, dass dies keine korrekte Einschätzung ist. Ich schlage vor, diese Beurteilung dem Markt zu entziehen. Wir sollten dafür sorgen, dass die Beiträge von Pflegepersonal, Lehrkräften und all den „systemrelevanten“ Arbeitskräften, die wir in der Corona-Krise wiederentdeckt haben, sich angemessen in der Belohnung und Anerkennung durch die Gesellschaft wiederfinden. Ich spreche vom Wert ihres Beitrags und nicht vom Nutzen, denn letzterer Begriff birgt die Gefahr, die Bedeutung dieses Beitrags zu verengen oder zu schmälern.
Singer: Ich stimme Ihnen zu, dass ein Teil der utilitaristischen Tradition aus einer gewissen intellektuellen Faulheit heraus auf den Markt verwiesen hat und ihm die Aufgabe übertrug, stichhaltigere Urteile darüber zu fällen, was gut ist. Da Menschen ihre Präferenzen ausdrücken, indem sie bestimmte Güter kaufen und andere nicht, würde es genügen, den Markt zu befragen, um herauszufinden, welchen Wert sie diesen Gütern beimessen. Das ist in gewisser Weise ein Verzicht auf ein Urteil, da haben Sie recht. Doch ich denke, das kommt von einem unzureichenden Verständnis des Utilitarismus. Ich habe mit der Idee des „effektiven Altruismus“ einen Weg vorgeschlagen, das Urteil des Marktes zu umgehen: Sie besteht darin, Menschen, die dazu in der Lage wären, aufzufordern, lukrative Karrieren zu machen, die sie von sich aus nicht gewählt hätten – zum Beispiel Banker im Finanzwesen –, um dann einen erheblichen Teil ihres Einkommens an Organisationen zu spenden, die Hunger und Elend bekämpfen. Damit retten sie mehr Leben, als wenn sie sich selbst in der humanitären Arbeit engagieren würden... oder wenn sie Moralphilosophie studiert hätten. Ich glaube nicht, dass dieses „Kalkül“ für jeden funktioniert. Für diejenigen, die ihre Talente entwickeln wollen, die etwas tun möchten, das ihnen Spaß macht, oder die Gefahr laufen, durch ein Umfeld, in dem viel Geld fließt, verdorben zu werden, ist es vielleicht keine gute Idee. Es erfordert einen sehr starken Willen und großes Engagement. Aber für einen meiner Studenten, der Professor für Philosophie in Oxford hätte werden können und durch eine ethische Entscheidung im Finanzwesen gelandet ist, hat es funktioniert.
Sandel: Ich würde darin fast einen marktförmigen Altruismus sehen. Das verdirbt letztlich das Gute, das Altruismus für den Charakter von Personen bewirken kann. Angenommen, Peter, Sie haben eine Tochter, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen hat und in einem armen Land für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeiten möchte. Sie ist nicht daran interessiert, so viel Geld wie möglich zu verdienen, sie will medizinische Versorgung zu denen bringen, die sie dringend brauchen. Und nehmen wir einmal an, Ihrer Tochter wurde kurz zuvor die Chance geboten, in einer Klinik für Schönheitschirurgie in Beverly Hills oder Paris viel mehr Geld zu verdienen – was ihr die Möglichkeit geben würde, „Ärzte ohne Grenzen“ genügend Geld zu spenden, dass sie zwei oder drei Ärzte anzustellen könnten. Würden Sie Ihrer Tochter raten, Schönheitschirurgin zu werden, um die Menge des Guten, das sie tun könnte, zu maximieren?
Singer: Das ist ein sehr interessanter Fall. Und Sie haben gut daran getan, sich vorzustellen, dass es meine Tochter ist und nicht irgendein Unbekannter, der mich per E-Mail um Rat fragt. Als Elternteil bin ich umso mehr daran interessiert, was für einen Job meine Tochter haben wird, ob sie ihn gerne tut, ob er für sie erfüllend ist usw. Und ich würde erwarten, dass sie das Leben einer Schönheitschirurgin in Beverly Hills nicht so erfüllend finden würde wie das Leben eines Arztes, der in armen Ländern Leben rettet. Aber eigentlich stellt sich an diesem Punkt gar nicht die moralische Frage, sondern da, wo meine Tochter sagt (wie übrigens auch ein Unbekannter): „Ich werde zwar nicht den vollen Nutzen aus meiner medizinischen Karriere ziehen, aber ich werde die Gewissheit haben, dass es dank dieses Verzichts nun drei Ärzte gibt, die in armen Ländern Leben retten.“ Gutes tun bedeutet: nicht wegzuschauen, wenn man Leben retten oder verbessern kann.
Sandel: Und Sie würden das Gleiche sagen, nehme ich an, wenn Ihre Tochter als Schönheitschirurgin in Beverly Hills unglücklich und unerfüllt wäre, wobei ihr Unglück durch das Gute aufgewogen wird, das drei weitere Ärzte für andere tun könnten. Lautet so das Kalkül?
Singer: Genau! Ihr Unglück zählt, aber unabhängig davon, ob sie meine Tochter oder eine Unbekannte ist. Und es wird durch die Tatsache ausgeglichen, dass die zusätzlichen Ärzte Leben gerettet und schwere Krankheiten verhindert haben.
Sandel: Ich finde diese Antwort sehr irreführend. Und ich möchte unterstreichen, dass es ein Unterschied ist, ob es sich um Ihre Tochter handelt oder um einen Unbekannten, der Sie um Rat fragt. Sie meinen, dadurch, dass ich Ihre Tochter ins Spiel gebracht habe, hätte die Diskussion eine persönliche Schlagseite bekommt. Tatsächlich denke ich, dass es uns als Eltern ein Anliegen ist, unsere Kinder in diesen Fragen zu beraten. Natürlich kümmern wir uns auch um Unbekannte. Aber als Eltern ist uns auch der moralische Charakter unserer Kinder ein Anliegen: Wir sind stolz, wenn unser Kind, frisch vom Medizinstudium, für „Ärzte ohne Grenzen“ arbeiten will, denn Elternsein bedeutet auch, die Charakterbildung unserer Kinder zu fördern. Uns bewegt die Qualität dieses Charakters, nicht nur die Tatsache, dass sie Gutes in der Welt tun. Die Differenzierung zwischen dem Fall Ihrer Tochter und dem abstrakteren Fall des Unbekannten hilft uns zu verstehen, warum Nutzen nicht das Einzige ist, was zählt. Sie waren glücklich, als Sie erfuhren, dass Ihre Tochter diese karitative Arbeit machen wollte. Und das nicht nur, weil dadurch für Menschen gesorgt wird, sondern weil es die Tugend Ihrer Tochter widerspiegelt, für die Sie zu Recht in gewisser Weise Stolz empfinden.
Singer: Dem stimme ich nicht zu. Sie meinen, wenn meine Tochter Schönheitschirurgin wird und den größten Teil ihres Verdienstes an „Ärzte ohne Grenzen“ spendet, bedeutet es, dass sie keinen guten moralischen Charakter hat. Ich persönlich denke, sie hat einen ausgezeichneten Charakter, wenn sie dies tut und in der Lage ist, den Versuchungen des Lebens in Beverly Hills, wo die meisten ihrer Kollegen wohnen, zu widerstehen ... was ein weiterer Beweis ihrer Charakterstärke wäre.
Sandel: Beide Optionen sind gute Taten, doch es gibt einen qualitativen Unterschied. In dem Fall, wo Ihre Tochter einen Teil ihres Verdienstes einer Wohltätigkeitsorganisation spendet, ist diese Großzügigkeit eine bewundernswerte Geste. Aber in dem Fall, wo sie ihre Kompetenzen direkt zur Versorgung von Patienten in Not einsetzt, bringt sie eine bestimmte Art von Leben, die an sich bewundernswert ist, zum Ausdruck. Das ist wie der Unterschied, einen Soldaten dafür zu bezahlen, in einem gerechten Krieg zu kämpfen, und selbst in den Krieg zu gehen.
Singer: Ich denke, es ist in beiden Fällen das Gleiche.
Sandel: Würde es die gleiche Menge an Nutzen bringen? Ist es nicht ein Unterschied, ob man von Berverly Hills aus einen Scheck ausstellt oder sich selbst engagiert, sich um Leute kümmert und die Arbeit selbst tut?
Singer: Ich denke nicht, dass ein Charakter besser ist als der andere. Ich gebe zu, dass die Person in einem Fall mehr über die Welt lernt, vielfältigere Erfahrungen macht, zu einem besseren Verständnis des Lebens in Ländern mit niedrigem Einkommen kommt. Ich erkenne diese Vorteile an, aber ich möchte kein moralisches Urteil fällen, dass der Charakter der Person, die Gutes tut, indem sie einen Scheck ausstellt, geringer zu bewerten sei als der Charakter der Person, die Gutes mit ihren eigenen Händen tut.
Sandel: Eine Sache, die uns unterscheidet, so scheint mir, ist der Platz, den wir der emotionalen Befangenheit in der Ethik einräumen.
Singer: Das ist richtig! Einige dieser Befangenheiten, wie z.B. die gegenüber unseren Kindern, halte ich für verständlich. Sie nicht in gewisser Weise zu bevorzugen, bedeutet nicht, gute Eltern zu sein. Nur würde ich hinzufügen, dass sie uns eher daran hindern, so viel Gutes wie möglich zu tun. Ein Utilitarist ist tolerant, er wird den Eltern mit solcher Präferenz keine Vorwürfe machen, doch das hindert ihn nicht daran, zwischen einer guten und einer schlechten Handlung zu unterscheiden. Angenommen, ich habe die Wahl zwischen der Rettung meines eigenen Kindes oder der Rettung des Lebens von Tausenden von Kindern, deren Leben genauso zählt, auch wenn ich sie nicht kenne und sie für mich Fremde sind. Unter diesen Umständen ist es nicht verwerflich, das eigene Kind zu retten – wir haben uns evolutionär mit dieser besonderen Fürsorge für unsere Kinder entwickelt, und diese Neigung, die unser Überleben gesichert hat, ist uns angeboren. Aber wenn ich gefragt werde, ob die Person, die ihr Kind sterben ließ, um tausend Leben zu retten, eine gute Entscheidung getroffen hat, muss ich sagen: Ja.
Sandel: Immer dieses Kalkül, das von Situationen und Menschen abstrahiert! Nehmen wir ein anderes Beispiel: Stellen wir uns vor, man beschließt in Staaten, wo die Todesstrafe existiert, die Rolle des Henkers, die im Gefängnissystem von staatlichen Beamten ausgeführt wird, an Subunternehmer auszulagern, um Kosten zu sparen. Nehmen wir weiter an, dass man herausfindet, dass einige Leute bereit wären, dies umsonst zu tun und sogar an Auktionen teilnehmen, um das Privileg zu ersteigern, Verurteilte auf den elektrischen Stuhl zu setzen. Aus utilitaristischer Sicht wäre dies eine wünschenswerte Politik: Die Arbeit würde billiger erledigt, das Budget für Hinrichtungen könnte stattdessen für Bildungsangebote und die Gesundheitsfürsorge im Gefängnis verwendet werden, und der Henker, der die Auktion gewonnen hat, würde sein Vergnügen gesteigert sehen. Peter, würden Sie das unterstützen?
Singer: Ich bin kein Befürworter der Todesstrafe, aber wenn man davon ausgeht, dass sie sowieso vollstreckt wird, dass dieses System die Henker nicht zu mehr Gewalt außerhalb des Gefängnisses animiert und dass dadurch der Zustand der Gefängnisse verbessert wird – im Falle dieser Hypothese kann ein konsequenter Utilitarist nicht umhin, eine solche Maßnahme zu unterstützen. Gegen eine solche Vergabepraxis für die Rolle des Henkers, hätte ich nichts einzuwenden.
Sandel: Und Sie hätten keine Probleme damit?
Singer: Es stört mich, dass Menschen bereit wären, Geld zu bezahlen, um töten zu dürfen, aber wenn es das Gefängnissystem insgesamt verbessert, muss ich dieses Modell akzeptieren.
Sandel: Das ist es, was uns trennt: Was für Sie moralisch zählt, sind die Folgen einer Handlung, während es für mich auch darum geht, wer diese Handlung vollzieht. •
Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer lehrt an der Charles-Sturt-Universität, Melbourne sowie in Princeton. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern des sogenannten Utilitarismus. Gut ist für ihn eine Handlung, wenn sie das Wohlergehen aller Betroffenen optimiert. Sein wichtigstes Buch zum Thema trägt den Titel „Praktische Ethik“ (Reclam, 1979)
Michael Sandel lehrt Philosophie an der Harvard University, gilt als Mitbegründer des Kommunitarismus und zählt zu den einflussreichsten politischen Denkern weltweit. In seinen millionenfach verkauften Büchern und gefeierten Vorlesungen setzt er sich kritisch mit der Wechselwirkung von Marktwirtschaft, Finanzmarkt und Moral auseinander. Zuletzt erschien von ihm „Vom Ende des Gemeinwohls: Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt“ (Fischer, 2020)