Colin Crouch: „Letztlich bietet die Neue Rechte dem Neoliberalismus einen Deal an“
Vor 18 Jahren sorgte Colin Crouchs Buch Postdemokratie für Aufsehen. Am 19. April nun erschien Postdemokratie revisited, worin der Politologe erneut analysiert, wie es um die westlichen Demokratien bestellt ist. Im Gespräch gesteht er dabei auch ein, an welchen zentralen Stellen er sich damals getäuscht hat.
Herr Crouch, im Jahr 2003 erschien Ihr Buch Postdemokratie, in dem Sie die These vertraten, dass sich die Demokratie in vielen Ländern des Westens auf einen Zustand zubewege, in dem sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sei. Was meinten Sie damit genau?
In den meisten westlichen Ländern blieben die Institutionen und Verfahren, die für die Demokratie zentral sind, zwar unangetastet – Wahlkämpfe und Wahlen werden abgehalten, Regierungen nach wie vor auf friedlichem Wege abgelöst und auch politische Debatten geführt –, doch verloren die Demokratien zunehmend an Lebendigkeit, da Parteien und Regierungen kaum noch auf Anliegen von Bürgern reagierten, sondern lieber ihre eigenen Themen auf die Agenda setzten und in Teilen die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten manipulierten.
Woran machten Sie diese Analyse damals fest?
Ich stützte mich damals vorrangig auf zwei Beobachtungen. Erstens war festzustellen, dass sich Wirtschaft und Politik immer weiter entkoppelten. Oder präziser ausgedrückt: Wo der Nationalstaat noch immer der Kern demokratischer Prozesse war, wurden wirtschaftliche Entscheidungen aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft vermehrt auf supranationaler Ebene getroffen. Diese wachsende Kluft führte zu einer enormen Konzentration von Macht in den Händen weniger, was wiederum dafür sorgte, dass sich die Politik zunehmend den Interessen großen Konzerne zuwandte. Zweitens nahm die Bedeutung von Klassen- und Religionszugehörigkeiten für die politische Identität der Menschen seit den 50er- und 60er-Jahren immer weiter ab.
Was sind die Ursachen dafür?
Die Klassen- und Religionsidentitäten, die es gab, stammten meist aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und verloren im Alltag an Relevanz. Dies jedoch hatte weitreichenden Folgen. Denn wer sich existenziell nirgends zugehörig fühlt, dem fällt es auch schwer, die Frage nach dem eigenen politischen Standpunkt zu beantworten. Sofern wir aber diesen Standpunkt nicht bestimmen können, sind wir auch kaum in der Lage, uns aktiv in demokratische Prozesse einzubringen. Diese beiden Entwicklungen hatten meines Erachtens dazu geführt, dass sich Politik und Leben zunehmend voneinander entfremdeten.
Ihrer Ansicht nach befanden sich westliche Demokratien damals eben „auf dem Weg“ zur Postdemokratie. Nun bewerten Sie die Lage in Ihrem jüngst erschienenen Buch Postdemokratie revisited nach 18 Jahren neu. Wie steht es heute um westliche Demokratien?
Wichtig zu betonen ist tatsächlich, dass ich 2003 davon sprach, dass wir uns auf dem Weg hin zur Postdemokratie befinden. Ich sprach nicht davon, dass wir bereits in einer solchen leben würden. Allerdings glaube ich, dass wir seitdem nicht umgekehrt sind, sondern unseren Schritt in dieser Richtung noch beschleunigt haben. Denn die beiden eben skizzierten Dynamiken sind noch immer wirksam und haben sich teils sogar intensiviert.
Welchen Einfluss hatten hierbei die Finanz- und Eurokrise von 2008 und 2010?
Besonders die Finanzkrise von 2008 war eine postdemokratische Erfahrung par excellence. Und zwar insofern, als dass die Zeit nach der Krise maßgeblich auch von jenen gestaltet wurde, die diese Krise überhaupt erst verursacht hatten. Um es ganz konkret zu machen: Goldman Sachs war maßgeblich für diese Krise verantwortlich und doch waren viele dieser Leute auch nach dem Crash in wichtigen Positionen, um die Zukunft zu planen.
Neben den bereits beschriebenen Dynamiken, die Sie als Treiber der Postdemokratie identifiziert haben, schreiben Sie allerdings auch, dass Sie an zentralen Stellen falsch lagen. Welche sind das?
Wohl an erster Stelle zu nennen wäre das Erstarken des Rechtspopulismus, den ich als Faktor massiv unterschätzt habe. Denn in fast allen Ländern der demokratisierten Welt sehen wir Parteien, die fremdenfeindliche Rhetorik nutzen und damit erfolgreich sind. Weit erfolgreicher als ich es mir 2003 vorstellen konnte. Heute allerdings kann ich mir diesen Aufstieg besser erklären.
Und zwar wie?
In einer Welt, in der, wie bereits angesprochen, politische Identitäten immer weniger über Klassen- und Religionszugehörigkeiten gestiftet werden, ist die Nation eine einfach zu verstehende und im Hinblick auf die eigene Identitätsbildung demnach attraktive Größe. Denn wir alle verstehen Nation. Sonst würden wir auf die Frage „Was bist Du?“ nach „Mann“ oder „Frau“ nicht direkt Auskunft über unsere Nationalität geben. Spannend ist allerdings auch, dass sich mittlerweile viele Argumente der Neuen Rechten auf den ersten Blick anhören wie solche, die auch ich vertreten könnte.
Weil auch sie Eliten kritisieren, die auf Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung nicht eingehen?
Richtig. Wer allerdings näher hinsieht, wird feststellen, dass Elitenkritik nicht gleich Elitenkritik ist. Personen wie Steve Bannon kritisieren nämlich nicht alle Eliten, sondern nur liberale Eliten. Nur diejenige Klasse von Eliten also, die unter anderem die Gleichstellung der Geschlechter in den letzten Jahren vorangetrieben hat. Gegen die Finanzelite allerdings haben diese Menschen nichts. Demnach könnte man pointiert sagen, dass die Neue Rechte nicht gegen Eliten ist, sondern gegen den Liberalismus, den einige Eliten vertreten. Was hier betrieben wird, ist also keine Eliten-, sondern Liberalismuskritik. Das ist bei mir anders. Eine andere Sache, die ich 2003 unterschätzt habe: Wie wichtig für die Demokratie der oft leise Schutz von Institutionen ist.
Was meinen Sie damit?
Ich habe den Einfluss jener „großen politischen Momente“ lange überschätzt, in denen es engagierten Bürgergruppen gelingt, die professionelle Politik zur Beschäftigung mit ihren Anliegen zu veranlassen. Die sind sicher wichtig. Fast noch zentraler erscheint mir allerdings heute die Einsicht, dass die Demokratie von Institutionen abhängt, die selbst nicht dezidiert politisch sind. Denken Sie beispielsweise an Gerichtshöfe oder das Prinzip der Gewaltenteilung. Demokratien sind Menschen nicht unähnlich und können sich selbst nie ganz vertrauen. Sie brauchen äußere Kontrollinstanzen, damit nichts aus dem Ruder läuft. Wenn diese Kontrollfunktionen zu schwach werden oder gänzlich wegfallen, wird es düster.
Dabei sind es gerade diese Institutionen, die von rechts unter Beschuss stehen.
Und genau das ist es, was den Populismus so gefährlich macht. Die inhaltliche Hetze ist furchtbar und an sich schlimm genug. Demokratiegefährdend allerdings ist weniger, was Parteien wie die Rassemblement National sagen, sondern eher wie sie es sagen. Denn wer die Medien, die Gerichte usw. über einen längeren Zeitraum verächtlich macht, höhl die Demokratie aus und gibt sie damit zum Abschuss frei. Allerdings gibt es neben dem Rechtspopulismus noch einen weiteren „Feind der Demokratie“, der in gewisser Weise gemeinsame Sache mit diesem macht.
Und zwar?
Den Neoliberalismus.
Stehen sich die Anliegen von Rechtspopulisten und Neoliberalen nicht im Grundsatz gegenüber?
An sich ja, da es in der neoliberalen Idealwelt keine Nationen gibt. Dort gäbe es nur Einheiten, die untereinander Handel treiben. Für Rechtspopulisten ist dies hingegen ganz anders. Allerdings verbindet diese beiden Feinde der Demokratie die Ablehnung einer übernationalen Ebene von Politik. Die Neoliberalen nämlich wollen keine übernationalen Regulierungen, weil diese die einzigen sind, die ihnen überhaupt in die Quere kommen können. Und die Rechtsextremisten wollen nur Regulierungsinstanzen auf nationaler Ebene, eben, weil sie Nationalisten sind.
Dass es Berührungspunkte zwischen Neoliberalismus und Rechtsextremismus gibt, zeigt sich nicht zuletzt auch an der bisherigen Geschichte der AfD, die mit sehr neoliberalen Anliegen gestartet ist und sich erst nach und nach im politischen Spektrum nach rechts bewegt hat.
Um die Gefahr von Neoliberalismus und Rechtspopulismus allerdings nochmals auf den Punkt zu bringen: Wirklich bedrohlich wird ersterer, wenn er die Institutionen, die die Demokratie schützen, ihres demokratischen Gehalts berauben. Die Neurechten sind wiederum eine Gefahr, wenn sie die Herrschenden von den Einschränkungen befreien wollen, die ihnen diese Institutionen auferlegen. Letztlich bietet die Neue Rechte dem Neoliberalismus einen Deal an: Wenn du die nationalistischen Einschränkungen einiger deiner Aktivitäten akzeptierst, lassen wir alle übrigen unreguliert. Zudem lenken wir die Wut der Öffentlichkeit auf Immigranten und Ausländer und damit weg von dir. Angesichts dieses Angebots bleibt die neoliberale Geschäftswelt gespalten, da die Neue Rechte nicht nur eine nationalistische Wirtschaftspolitik, sondern auch eine unkontrollierte institutionsfeindliche Politik verfolgen könnte, die für die Unternehmensinteressen ein großes Problem darstellen würde. Letzten Endes treffen sich Rechtspopulismus und Neoliberalismus also in dem Punkt, dass sie keine Regulierung wollen.
Lassen Sie uns noch auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen. Sehen Sie auch in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine Gefahr für die Demokratie?
Das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber ihren Regierungen hat sicherlich gelitten. Allerdings sehe ich in der Pandemie auch eine Chance für die Demokratie. Denn ein Problem der Postdemokratie besteht darin, dass Menschen ohne politische Identität sich nicht politisch engagieren. Wer glaubt, dass die Politik ihn oder sie nichts angeht, wird sich auch nicht für den Erhalt der Demokratie einsetzten. Durch die Pandemie allerdings sind wir alle zu sehr scharfen Beobachterinnen und Beobachtern unserer jeweiligen Regierungen geworden. Und zwar ob uns die Maßnahmen gefallen oder nicht. Meine Hoffnung ist, dass dieses Interesse an der Politik auch nach der Pandemie bestehen bleibt und nicht destruktiv wird.
Apropos Destruktivität: 2003 feierten Sie das Internet noch als effektives Schild gegen ein weiteres Abdriften hin zur Postdemokratie. Sehen Sie das heute noch ähnlich?
Leider nein. Das ist ein weiterer Punkt, in dem ich mich leider gänzlich geirrt habe. Das Internet ist heute kein Ort mehr, an dem echte Freiheit herrscht, sondern ein Raum, der unter wenigen Großunternehmen aufgeteilt ist, die massive Macht darüber haben, was gesehen und gelesen wird – und was verschwindet. Heute ist das Internet eher ein Problem für die Demokratie, da einige wenige Menschen durch kluge Vernetzung und viel digitalen Lärm den Anschein erwecken können, dass sie viel mehr und bedeutender sind als dies tatsächlich der Fall ist.
Nach Ihrer Analyse schiene die Lage aktuell damit bedrückender als 2003. Ist der Weg in die Postdemokratie denn besiegelt? Oder gibt es auch etwas, was Ihnen Hoffnung auf Besserung macht?
Es gibt auf jeden Fall Anzeichen dafür, dass sich viele Menschen, insbesondere jüngere und gebildetere, gegen die Kaperung der Diskurse durch die Neue Rechte wenden, was mir tatsächlich große Hoffnung macht. Zunehmend bestimmen auch Frauen die politische Agenda im weitesten Sinne, was gut ist. Sicherlich können auch junge und gebildete Menschen leicht in selbstzufriedenen Individualismus abdriften, wozu sie der Neoliberalismus laufend ermutigt. Doch viele widerstehen dieser Versuchung auch und befassen sich kritisch mit dem, was um sie herum geschieht. Sie sind das Reservoir, aus dem sich politisch aktive Gruppen bilden und Kampagnen geführt werden können. Wenn sie auch weiterhin Zulauf haben und Millionen Menschen dafür sorgen, dass sie erhalten, was sie zum Gedeihen brauchen – Geld, Demonstrationsteilnehmer, aktive Helfer –, wird die Demokratie wieder aufleben können. •
Colin Crouch lehrte bis zu seiner Emeritierung Governance and Public Management an der Warwick Business School. Für „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ erhielt er den Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sein neues Buch „Postdemokratie revisited“ (Suhrkamp) ist soeben erschienen.