Das Rasen der Zeit
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 2: Clubs, die verschwitzten Heterotopien.
Schweiß, Gedränge und Dezibel statt Desinfektionsmittel, Mindestabstand und Maskenpflicht. Virologisch betrachtet sind Clubs eine Katastrophe, weshalb ihre Wiederöffnung von sämtlichen urbanen Sehnsuchtsorten vermutlich am weitesten in der Zukunft liegt. Dass sie allerdings schon immer mehr boten als pures Partyvergnügen wird deutlich, wenn man sie durch die Brille Michel Foucaults betrachtet. Aus der Perspektive des französischen Philosophen werden Institutionen wie das Kölner Bootshaus, das Berliner Berghain oder das Hamburger Übel & Gefährlich als Räume erkennbar, in denen sich gegenseitige Akzeptanz einüben lässt, die herkömmliche Zeit aufgehoben ist und man nie nur an einem Ort gleichzeitig ist. Kurz gesagt: Clubs sind Heterotopien par excellence. Doch was sind Heterotopien überhaupt?
Der Begriff „Heterotopie“ setzt sich aus den altgriechischen Worten „hetero“ („abweichend“, „anders“) und „topos“ („Ort“) zusammen und beschreibt nach Foucault in der Welt lokalisierte Utopien („Nicht-Orte“). Alternative Gesellschaftsordnungen also, die sich nicht in Gedankenexperimenten erschöpfen, sondern räumlich realisiert sind. Es handelt sich um „Gegenräume“, die fundamental anderen Regeln folgen als reguläre Orte – weshalb in ihnen andere Ordnungsprinzipien erprobt werden können. Heterotopien führen, wie Foucault ausführt, der Gesellschaft entweder ihre perfekte Realisierung oder ihre normative Kehrseite vor Augen. Konkrete Beispiele sind demnach neben Gärten, Friedhöfen und Psychiatrien auch Bordelle und Gefängnisse. So wird auf Friedhöfen beispielsweise nicht gerannt oder gegessen, in Bordellen sind nahezu alle Regeln der Sittlichkeit außer Kraft gesetzt.
Dass auch der Club ein Andersort ist, der „den Realraum außerhalb der Heterotopie verwirft, in den das Leben normalerweise gesperrt ist“, wie Foucault in Andere Orte schreibt, wird meist schon vor dem ersten Schritt auf die Tanzfläche deutlich.
Willkommen im Antipanopticon
Denn wie alle Heterotopien „nicht ohne weiteres zugänglich“ sind und „stets ein System der Öffnung und der Abschließung besitzen, welches sie von der Umgebung isoliert“, ist auch der Zugang zu vielen Clubs alles andere als selbstverständlich. Wer schon mal von einem Türsteher abgewiesen wurde, weiß, dass dieser Selektionsprozess tatsächlich einem „halb religiösen, halb hygienischen“ Ritual ähneln kann, wie es Foucault beschreibt.
Dass das berühmte Berghain in Berlin ein besonders deutliches Beispiel eines heterotopen Ortes darstellt, verrät schon der Stempel, den jeder Besucher und jede Besucherin nach dem Eintritt auf das Handgelenk gedrückt bekommt. Zu sehen ist ein Viereck mit dicken Seitenlinien, die nur an einer kleinen Stelle unverbunden sind und in dessen Mitte „Berghain“ zu lesen ist. Der Stempel symbolisiert die Abgeschlossenheit des Clubs und die kleine Öffnung, durch die der Zutritt zur Heterotopie überwacht wird.
Sichtbarkeit ist eine Falle“, konstatiert Foucault in Überwachen und Strafen in Bezug auf das Panopticon, ein idealtypisches Gefängnis (das tatsächlich so nie gebaut wurde), in dem der Gehorsam der Insassen nicht durch martialische Gewaltmittel garantiert wird, sondern allein durch eine Architektur, die permanent unklar lässt, ob man gerade beobachtet wird oder nicht. Und natürlich: Wenn man nie weiß, ob gerade jemand hinguckt, bricht man die Regeln besser nicht. Das gilt nicht nur für Gefängnisinsassinnen, sondern wird durch die Vervielfältigungsmöglichkeiten sozialer Medien umso drängender: Tun Sie auch privat bitte nichts, wovon Sie nicht möchten, dass Ihre Chefin es morgen im Internet sieht. Der Club ist in diesem Sinne ein Antipanopticon: Es gibt nur zuckendes Licht, überall ist Trockeneis – und im Berghain sowie zahlreichen anderen Technoclubs werden am Eingang sogar Handykameras abgeklebt: Was dort geschieht, bleibt dort. Das ermöglicht eine Entgrenzung, die nur erlebt, wer dabei gewesen ist. Diese Verbannung jeder potenziellen Überwachung ist es Foucault zufolge, was „das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten Individuen“, möglich macht. „Dance like nobody is watching!”, hier klappt’s wirklich.
Tinnitus of change
Die Club-Nacht neigt sich dem Ende zu und die Taktschläge pro Minute werden vom Tempo „Kammerflimmern“ auf „Ruhepuls“ heruntergefahren. Man stellt das letzte Getränk halb voll irgendwo ab, vergisst seine Jacke an der Garderobe und stolpert durch den Ausgang ins Freie. Und fragt sich unweigerlich: „Wie kann es denn schon wieder hell sein?!“
Was immer wieder für Momente der Fassungslosigkeit sorgt, ist immanenter Teil jeder Heterotopie. Denn diese erreicht laut Foucault ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“. So können einige Heterotopien Zeit verlangsamen oder gar speichern, indem sie Gegenstände aus unterschiedlichen Epochen archivarisch in einem Raum versammeln, Bibliotheken oder Museen etwa. Diesen Orten, die in einem „Modus der Ewigkeit“ verbunden sind und Zeit gerade erfahrbar machen wollen, stehen jenen anderen Heterotopien gegenüber, welche die Zeit im Gegenteil zu tilgen versuchen. Auch die Heterotopie des Clubs formt sich in dieser Hinsicht zu einer Heterochronie (vom Altgriechischen „chrónos“ für „Zeit“ abgeleitet), indem der natürliche Biorhythmus durch das Fehlen von Fenstern, gleichbleibend schlechter Luftverhältnisse sowie künstliches, schnell wechselndes Licht ausgehebelt wird. Der Club hat eine andere Zeitordnung als der Alltag.
Wirklich interessant wird es allerdings, wenn die alternative Ordnung der Heterotopie auch zu Änderungen in der alltäglichen Ordnung führt. Von Andersorten können neue Impulse für die Gesellschaft ausgehen – und genau darin liegt für Foucault auch ihr politisches Potenzial. So muss das Gemeinschaftsgefühl mit den halbtauben und zappelnden Mitfeiernden nicht enden, wenn der Eintrittsstempel langsam verblasst, sondern führt im Idealfall zu mehr Akzeptanz ganz anderer Lebensentwürfe. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass sich das Motto „The party never ends“ nach der Pandemie ein weiteres Mal als richtig herausstellt. •