Begegnungen wie Tangenten
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 1: Cafés, die Oasen des Neutralen.
In normalen Zeiten verschränkt sich in Cafés die öffentliche mit der privaten Sphäre wie fast nirgends sonst. Denn obwohl es sich um Orte handelt, die prinzipiell jedem zugänglich sind, führen wir vor unseren Tassen und Kuchentellern mitunter die persönlichsten Gespräche. Inmitten von Fremden redet man über die bevorstehende Geburt des ersten Kindes, flirtet mit einem Tinder-Date, führt Smalltalk mit Arbeitskollegen oder erträgt den Redeschwall von Verwandten, die „mal wieder in der Stadt“ sind. Und es sind eben diese teils oberflächlichen, teils tiefgehenden und dennoch auf ihre Weise stets unverbindlichen Interaktionen mit Menschen, welche fast ausschließlich in Cafés stattfinden können, die man in der Pandemie zunehmend vermisst. Gute Freunde empfing man stets zu Hause, Arbeitskollegen trifft man auf der Arbeit. Doch für alles dazwischen ist das Café der perfekte Ort.
In seinem 1977 erschienenen Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – die Tyrannei der Intimität erläutert der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett, dass das Aufkommen von Kaffeehäusern massiv in die Architektur britischer Städte eingriff und entsprechend auch die Interaktionen zwischen Menschen veränderte: „In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden neue Orte, an denen sich plötzlich Fremde begegnen konnten: Cafés und Pubs mit Alkoholausschank, die ersten Restaurants, öffentliche Promenaden.“ Zwischen dem öffentlichen Leben im politischen Sinne und dem privaten, häuslichen Leben entstand durch diese Orte eine dritte Kategorie. Das, was man heute als „öffentlichen Raum“ bezeichnet, erlaubte es nun „der unmittelbaren Umgebung und den bewusst definierten persönlichen Beziehungen zu entkommen“.
Kaffeehäuser und Cafés stellen Sennett zufolge urbane Institutionen par excellence dar. Denn wo auf dem Land jeder jeden kennt, regiert in der Stadt die Anonymität. Besonders die frühen Kaffeehäuser boten da eine Möglichkeit, um unverbindlich ins Gespräch zu kommen und neue Bekanntschaften, wenn nicht sogar Freund- oder Liebschaften zu knüpfen. Obwohl wir höchstens noch an der Bar mit Fremden in Kontakt treten und unsere Interaktionen sonst meist auf die Menschen beschränken, mit denen wir dort sind, bieten diese Räume dennoch Möglichkeiten für andere Ebenen des Gesprächs. Cafés eröffnen durch ihre Verschränkung von privatem und öffentlichem Raum einen dritten Kommunikationsweg, der eine große soziale Leichtigkeit ermöglicht.
Der dritte Weg
Oder anders ausgedrückt: Cafés zwingen uns durch diese Verschränkung zu einer gewissen Zurückhaltung, weil sie neutraler Grund sind: nicht Arbeit, nicht Heim. Cafés sind genau so gemütlich, dass man auch Privates besprechen kann und genau so öffentlich, dass selbst Konversationen mit gehörigem Konfliktpotenzial nicht eskalieren, wie es in den eigenen vier Wänden vielleicht der Fall wäre. So wie sie uns zur Zurückhaltung zwingen, können sie allerdings auch Interaktionen dynamisieren, denen man sonst auf die Couch entfliehen würde.
Die in vielerlei Hinsicht stabilisierende Kraft der Neutralität illustrierte Roland Barthes in seiner 1978 gehaltenen Vorlesung Das Neutrum. Der französische Philosoph unterstreicht dabei besonders jene vermittelnde Kraft der Neutralität, die Entweder-Oder-Strukturen aufbricht, indem sie einen dritten Weg aufzeigt. „Alles Neutrale“, so Barthes, „entzieht sich einer klaren Beurteilung.“ Und oft brachten wir doch gerade die Menschen mit ins Café, bei denen wir es genau darauf anlegten, eine definitive Beurteilung zu umgehen oder zu vermeiden, dass es auf der Seite des Gegenübers zu einer finalen Einschätzung kommt.
Würden wir nämlich in manchen Situationen wirklich aussprechen, was nur als Andeutungen zwischen uns selbst und unseren Gegenübern in der Luft liegt, fiele die brüchige Beziehung in sich zusammen. So erdulden wir zwar die Gesellschaft eines Geschäftspartners um des Deals wegen, wollen aber nicht, dass unser Desinteresse an seinen Hobbys zu offensichtlich wird und verhalten uns folglich neutral. Kurzum: Viele unserer Interaktionen fußen auf einem Willen zum Mittelwert, auf gedimmter Oberflächlichkeit oder, wie Roland Barthes es ausdrückt, auf „Begegnungen wie Tangenten“, die das eigene Leben zwar berühren, jedoch nicht wirklich schneiden.
Neutralität sei nur zu oft ungerechterweise als Unwert betrachtet worden, bedauert Barthes, und führt den Klang des Wortes spielerisch als eine mögliche Erklärung an. Das „eu“ erinnere an das „Äh“ nach einer Frage, auf die man keine Antwort parat hat oder sich nicht traut, sie auszusprechen. In den Augen vieler, so Barthes, hafte der Neutralität eine Art dumpfe Eintönigkeit an, mit der man sich nicht gemein machen wolle. Tatsächlich berge die Neutralität aber eine ungeheure Kraft. Wer einen Raum mit „neutralen“ Farbtönen dekoriert, beruhige dessen Anmutung und mache ihn so gemütlicher. Neutralität brächte Dinge nicht zum Verschwinden, sei kein „Nicht“- oder „Nie-ismus“, sondern kehre gerade das Begehren nach „Zartheit“ hervor und könne so auch eine „Aufhebung des Narzissmus“ bewirken. Das Neutrale sei so etwas wie die allgemeine Ausdrucksform des Subversiven, dessen, was unter der Oberfläche liegt. Deshalb sieht Barthes in der Neutralität auch einen Widerstandsmodus gegen Dogmatismen seiner Zeit.
Imperativ der Intimität
Was die Cafés betrifft, so stellt Richard Sennett seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jedoch eine Tendenz fest, die dem Geist dieser halb privaten, halb öffentlichen Orte fundamental widerspricht: die wachsende Bedeutung der intimen Selbstdarstellung. Denn unser privates Ich erlange zunehmend den Vorrang vor unserer öffentlichen Person. Die einstige Dualität unseres Seins zwischen privatem und öffentlichem Selbst schwinde immer weiter, da sich das Private immer mehr in den Vordergrund dränge. Auch im öffentlichen Raum präsentierten wir dieses innerste Ich, anstatt uns in die Rolle eines öffentlichen Ichs zu begeben. Sennetts Diagnose zufolge werden wir so zunehmend unfähig, dem Imperativ der Intimität zu entkommen, weil wir immerzu dazu aufgefordert werden, zu zeigen, wer wir sind und was wir wirklich fühlen. Seiner Meinung nach ist das ein hoher Preis: „Menschen bereichern ihre Erfahrungen nicht, wenn sie nicht mit Fremden in Kontakt sind“, schreibt Sennett und erläutert weiter: „Unbekanntes (und ungewohntes) Terrain hat eine wichtige Funktion für unser Leben. Es gewöhnt den Einzelnen daran, Risiken einzugehen.“ Umgekehrt führe die „Tyrannei der Intimität“ zu einer bedrückenden Enge.
Kann man Sennetts Kritik an der erzwungenen Intimität in heutigen Gesellschaften im Grundsatz zustimmen, offenbart seine Analyse dennoch blinde Flecken, weil er den von Barthes eingeführten dritten Weg der Neutralität außer Acht lässt. Gewiss, jene altmodischen öffentlichen Räume, in denen man sich freudig mit Fremden unterhält, weil allen bewusst ist, dass sie eine soziale Rolle spielen, sind vielfach passé. Hat man sich auf einem Café-Stuhl niedergelassen, sitzt in den allermeisten Fällen nicht weit entfernt dennoch eine fremde Person. Auch spricht man in der Regel über andere Themen. Anders als Sennett behauptet, vermag es einem sehr wohl gelingen, jemand anderes als sein intimes Selbst zu sein. Nur braucht es dafür Räume, um der Tyrannei der Intimität zumindest vorübergehend entkommen zu können. Und das sind zuvorderst all jene Cafés, die momentan geschlossen sind.
Keine Frage: Es ist toll, zu Hause ein gutes Glas Wein zu trinken, gemeinsam mit der besten Freundin eine Serie zu schauen oder einen guten Bekannten zum Brunch einzuladen. Gleichwohl kann man die aktuellen Corona-Maßnahmen notwendig und vernünftig finden, sich aber dennoch Sorgen machen, dass wir uns durch sie daran gewöhnen, nur noch einzelnen Menschen zu begegnen, nur noch mit engen Freunden oder unseren Partnern zu interagieren. Denn: Intimität ist einfach. Und tückisch bequem noch dazu. Wer lange alleine war, kann sich der Illusion hingeben, dass man nur mit sich selbst oder wenigen anderen am besten auskommt. „Welche Art von Persönlichkeit entwickelt sich in der Intimität?“, fragt Sennett am Ende seines Buches. Die Antwort: „Eine Persönlichkeit, die Vertrauen, Wärme und Komfort sucht – und schließlich findet.“ Doch gehört es ebenso zum Leben, sich dem Risiko der Fremde und Unvorhersehbarkeit aussetzen. Genießen Sie also, sobald es wieder möglich und verantwortbar ist, die schwirrende Atmosphäre eines Cafés. •
Übersetzt von Dominik Erhard
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