Version einer anderen Welt
Ob Clubs, Cafés oder Theater. Durch die Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 3: Stadien, Orte motivierender Gedankenübertragung.
Das Stadion als Sehnsuchtsort gibt es schon eine Weile nicht mehr, diesen Schmerz spürten die Stehplatz-Veteranen schon lange vor dem Lockdown. Oder doch? Am vergangenen Sonntag zirkelte Felix Kroos im Eintracht-Stadion zu Braunschweig – übrigens noch ein „richtiges“ Fußball-Stadion mit Tartanbahn, keine „Arena“ – in der Nachspielzeit einen Freistoß aus 20 Metern in den Winkel des gegnerischen Sandhausener Tores. Ein unmöglicher Siegtreffer im Abstiegskampf der 2. Bundesliga, der eigentlich nur möglich gewesen wäre, wenn ein ganzes Stadion diesen Schicksalsball gemeinsam verwandelt hätte und anschließend als „Ritual von Intensität“ (Hans Ulrich Gumbrecht) kollektiv explodiert wäre.
Denn genau das vermag ein Stadion, vom Autor in über drei Jahrzehnten teilnehmender Beobachtung überprüft, von der Bundes- bis zur Regionalliga: In hoffnungsloser Lage ein Fußballspiel zu drehen, sei es durch den berühmten Götterfunken, der auf den Platz zur eigenen Mannschaft „überspringt“, motivierende Gedankenübertragung („der kann nichts!“) oder einfach nur durch den entmenschten „Roar“ einer ganzen Kurve in genau der richtigen Weltsekunde. Ein Stadion schweißt die Menschen zusammen und schießt – tatsächlich – Tore. Der Stadionbesuch ist eben kein nachempfundenes Vergnügen, es bildet einen Kontext, in dem Zuschauen zum Tun wird. Oder, um es mit dem großen Fußballphilosophen Nick Hornby (Fever Pitch) zu sagen: „Die Freude, die wir bei derartigen Anlässen empfinden, ist nicht ein Feiern des Glücks anderer, sondern ein Feiern unseres eigenen; und bei einer katastrophalen Niederlage ist das uns verschlingende Leid in Wirklichkeit Selbstmitleid.“
Sozialdemokratische Wurstkessel
Was fehlt ist das Gefühl, im Stadion mit zigtausenden Gläubigen, Bescheidwissern, Unsympathen und Ungeduschten Gottesdienst zu feiern, den überforderten Schiri anzuschreien („hat schon Gelb!“), mit Haupttribüne, Gegengerade und Südkurve zu einer amorphen Masse zu verschmelzen und in der 92. Minute das erlösende Siegtor der Heimmannschaft reinzubrüllen, anschließend mit dutzenden Bierbechern geduscht zu werden und den Gegner hämisch zu „verabschieden“. Danach will der Autor heiser sein, das Fahrrad nicht mehr finden, zu Fuß nach Hause strunkeln, vorbei an hupenden Autos und unbekannten Menschen, die ihn anschmachten wie einen, der dieses Wunder gerade leibhaftig miterlebt und ermöglicht hat.
Das Stadion als Sehnsuchtsort der Kindheit und Jugend ist indes schon seit der Totalrenovierung des Fußballs zum weltweiten Unterhaltungsprodukt seit den frühen Neunziger Jahren verloren gegangen. Eigentlich. Die Stadien hatten einst den spröden Charme „großer, lichter sozialdemokratischer Wurstkessel und Palaverstätten“, wie der Schriftsteller Jürgen Roth schreibt. „Heute sind das wichtigtuerisch und rücksichtslos in die Gegend geklotzte Eventbunker (…)“. Was kommt nach der Pandemie? Ein Zurück zur Normalität des guten alten „analogen“ Fußballs wird es jedenfalls nicht sein. Nach Theodor W. Adorno gibt die „Unwirklichkeit“ der Spiele kund, dass das Wirkliche noch nicht ist. „Sie sind bewusstlose Übungen zum richtigen Leben“ (Minima Moralia). Unsere halbe Kinderzeit, so viel ist sicher, verbrachten wir auf dem Bolzplatz. Wir lernten die Spielregeln der Welt durch „Drei Ecken, ein Elfer“ oder „Letzter Mann hält“ kennen. Was das Wort Ellenbogengesellschaft in den 1980er Jahren wirklich bedeutete, erkannten wir zum Beispiel schmerzhaft am Ritual der Mannschaftswahlen.
Elektronisierte Gehirne
Was meint, in Abgrenzung dazu, Fußball digital? Mehr als nur das Verschwinden des Straßenfußballs. Unser Blick auf die Welt ändert sich, vom „perspektivischen zum gerasterten Raum“, wie der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit 2004 in Tor zur Welt feststellte. Nicht nur technische Geräte, auch unsere Körper und Gehirne elektronisieren sich. An die Stelle der alten Raum- und Zeitordnungskategorien tritt ein Denken in parallelen Bildwelten und Formeln, vermittelt etwa über Computerspiele. Im heutigen Verschiebungsspiel wäre eine ruhende Konstante wie Günter Netzer ein „Störfaktor“, der den „energetischen Fluss des Balls aufhält, indem er Napoleon spielt“, so Theweleit. Das Lesen und Berechnen des nächsten und übernächsten Spielzuges sind die Qualitäten des digitalen Fußballs.
Dieser Fußball, den Theweleit beschreibt, ist seit den frühen 2000er Jahren von den Spiele-Konsolen auf den Platz zurückgekehrt. Die Kinder der Neunziger Jahre sind 2014 in Rio de Janeiro Fußball-Weltmeister geworden. Also die erste Generation von Profi-Fußballern, die Netzer nur noch als ehemaligen TV-Kommentator gekannt haben, und die sich tatsächlich selber auf der Playstation gespielt haben. Der Gegensatz von analog und digital, von real und virtuell löst sich auf, der Fußball wird zum „Dritten Ort“ im Social Web, auch.
Aber irgendwie geht es ja immer weiter. Die Preise für die TV-Übertragungsrechte der Bundesliga sinken, die ungezügelte Vermarktung des Fußballs ist zumindest aufgehalten, die Boykott-Bewegung gegen die Menschenschinder-WM in Katar nimmt an Fahrt auf. Fußball bleibt eine andere Version der Welt. Und das Stadion der Sehnsuchtsort, frei nach Ernst Bloch, den niemand je besaß und den jeder noch einmal zu betreten hofft. •
Gerald Fricke, Fan von Eintracht Braunschweig, ist Politikwissenschaftler und Kommunikationsberater und hat mehrere Wörterbücher über komische Jahrzehnte geschrieben, u. a. „Petting statt Pershing“ (Reclam, 1998).
Lesen Sie hier die bisher erschienenen Texte der Serie Urbane Sehnsuchtsorte
Folge 1: Cafés, Folge 2: Clubs
Weitere Artikel
Die Lust am Überschuss
Ob Clubs, Cafés oder Stadien. Durch die Pandemie sind eine Vielzahl (halb-)öffentlicher Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 4: Theater, Orte eines Kollektivrituals.

Das Rasen der Zeit
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 2: Clubs, die verschwitzten Heterotopien.

Begegnungen wie Tangenten
Ob Fußballstadien, Theater oder Spätis. Durch die Corona-Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 1: Cafés, die Oasen des Neutralen.

Die Macht des vorpolitischen Raums
Stadions und Clubs sind wegen der Pandemie geschlossen, Bars und Kneipen dürfen sich oft nur halb füllen. Gerade dadurch wird uns klar, wie wichtig sie für eine Gesellschaft sind. Ja, mehr noch: Sie sind entscheidend für die demokratische Debattenkultur.

Elite, das heißt zu Deutsch: „Auslese“
Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
Wolfram Eilenberger: „Die Super League wäre die schlechteste aller möglichen Sportwelten“
Zwölf Top-Clubs schlossen sich jüngst zu einer exklusiven Super League zusammen und lösten ein Erdbeben im europäischen Fußball aus. Wolfram Eilenberger erläutert, warum die kapitalistische Logik keinen Wettbewerb schätzt und die Vereine zunehmend ortlos werden.

Das Leben als Brettspiel
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie sind viele Alltagssituationen auf Effizienz getrimmt: Markierungen auf dem Fußboden weisen den Weg, der Aufenthalt in öffentlichen Räumen soll aufs Nötigste beschränkt werden. Das ist vernünftig, wird damit doch das Virus eingedämmt. Auf Dauer brächte solch eine Durchreglementierung jedoch auch Nachteile – selbst für die Effizienz.

Sarah Bakewell: „Niemand kann ein perfekter Existenzialist sein“
Dass der Existenzialismus nach wie vor nicht nur junge Menschen begeistern kann, davon ist die Autorin des Bestsellers Das Café der Existenzialisten überzeugt. Ein Gespräch mit Sarah Bakewell über die Möglichkeit, „existenzialistisch“ zu leben – und über die politische Aktualität des existenzialistischen Freiheitsgedankens.
