Der Fremde mit einer Note Punk
1978 veröffentlichte die britische Band The Cure ihren berühmten Song Killing an Arab. In dem Lied verband der Sänger Robert Smith die nihilistische Provokation des Punks mit der Philosophie des Absurden – und setzte sich damit denselben Fehlinterpretationen aus wie schon Camus’ Roman.
Der Existenzialismus hat immer die jungen Leute angesprochen. Im Nachkriegsparis ist es mehr als eine Philosophie – es ist ein Style, eine Haltung, zur Schau getragen von Jungs „mit zerzausten Haaren“, „in bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemden, sommers wie winters“, entsprechend der ironischen „Personenbeschreibung“ von Boris Vian in seinem Saint-Germain-Führer („Manuel de Saint-Germain-des-Prés“, 1951). Alle wussten die Absurdität der Existenz zu ermessen, hatten Sartres „Der Ekel“, Camus’ „Der Fremde“ und Vians’ „Ich werde auf eure Gräber spucken“ gelesen. Mochte dieses leicht aufbrausende Völkchen drei Dekaden später auch in die Jahre gekommen sein, so war die Jugend doch immer noch da, und die Philosophie des Absurden hatte ihr noch immer etwas zu sagen.
Crawley, 1977: 35 Jahre nach dem Erscheinen von „Der Fremde“ hat Hunderte Meilen von Saint-Germaindes-Prés entfernt, im hintersten Winkel von Sussex, ein 17-Jähriger leidenschaftlich Camus „im französischen Original“ gelesen und findet darin einen kraftvollen Ausdruck seiner eigenen Eindrücke von der Welt. Die Welt ist für ihn das instabile England vom Ende der 1970er-Jahre, aus dem sowohl die mit eiserner Hand geführte Politik des Thatcherismus als auch die Explosion der Punk-Bewegung im Umfeld von den Sex Pistols, den Buzzcocks und The Clash hervorgehen wird. Dieser junge Kerl ist Robert Smith, der gerade The Cure gegründet hatte – die Band, der es verheißen war, eine Kultband zu werden, die Generationen unverwechselbarer Fans hervorbringen würde: schwarz geschminkte Augen, Lippenstift, das Haar zum Vogelnest toupiert …
In der englischen Tristesse jener Zeit ist das Lebensgefühl der Jugendlichen aufseiten der Punkrevolte: bewusst nihilistisch, regressiv, alles übertreibend und schlecht gekämmt – die Punkästhetik will die Obszönität einer Musikindustrie aufdecken, die einträglicher als je ist und doch nur dazu taugt, die Leute einzulullen. Doch während Johnny Rotten singt: „I am an antichrist / I am an anarchist“, entscheidet sich der melancholischer und literarischer veranlagte Robert Smith, seine Verzweiflung fürs Erste in den kargen Gefilden der Philosophie des Absurden anzusiedeln. So ist „Killing an Arab“, die 1978 bei dem kleinen Label Small Wonder erschienene Debütsingle der Band, direkt von „Der Fremde“ inspiriert. In Manchester gibt sich eine andere Punkband den Namen The Fall, in Anlehnung an den Roman „Der Fall“: Camus steht damals hoch im Kurs, die Verzweiflung auch.
Ist das einseitige Vereinnahmung oder Gerechtigkeit, die man dem jugendlichen Gehalt der Philosophie des Absurden widerfahren lässt? Was beim Hören von „Killing an Arab“ beeindruckt, ist die außergewöhnliche Qualität der Aneignung. Zunächst einmal, weil Robert Smith den Roman bestens kennt; er verschickt ihn übrigens systematisch gemeinsam mit der Platte an die Musikpresse, als die Single herauskommt. Der Song schildert den Mord an einem Araber, mit dem der erste Teil des Romantextes abschließt. Und alles ist vorhanden: die „Zymbeln der Sonne“, von denen die Stirn schmerzt und alle Adern unter der Haut pochen, der Sand, der Himmel, die Leere. Zwei Minuten zwanzig Musik in e-Moll, akzentuiert durch Drones und kleine Soli, die aus exotischen Tonleitern (namentlich der phrygischen, der ungarischen und der dorischen) zusammengesetzt sind.
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