Die Klassenwechslerin Annie Ernaux
Annie Ernaux denkt in ihrem faszinierend lakonischen Werk über abgelegte Milieus und verlorene Illusionen nach. In ihrem neuen Buch Das andere Mädchen findet die neue Literaturnobelpreisträgerin zum Urimpuls ihres Schreibens.
Es gibt Bücher, die geschrieben werden. Und Bücher, die geschrieben werden müssen. Von Ersteren gibt es viele. Die anderen sind selten, man erkennt sie sofort. Sie besitzen eine Notwendigkeit, die sich meist biografischem Druck verdankt. Das Werk von Annie Ernaux, die 1940 in eine aufsteigende normannische Arbeiterfamilie hineingeboren wurde, gehört in diese Kategorie. In den 1970er-Jahren hatte sie Bücher veröffentlicht, die vom „Nouveau Roman“ geprägt waren, deren Stil ihr aber irgendwann fragwürdig vorkam. Um zu jenen Glutpunkten des Empfindens vorzudringen, zu den Widersprüchlichkeiten der eigenen Biografie und zur verstörenden Scham der Klassenflüchtigen – oder der „transclasse“, wie es bei der Philosophin Chantal Jaquet treffender heißt –, dafür bedurfte es einer anderen Schreibweise, einer „écriture factuelle“: Sachlich, konkret, direkt sollte sie sein.
1983 erschien La Place (Der Platz) in Frankreich, und dieses Buch über ihren aus bäuerlich-proletarischem Milieu stammenden Vater sorgte für Aufsehen. Ernaux löste sich darin von dem, was als legitime Literatursprache angesehen wurde, um über ein Leben zu schreiben, das gemeinhin als wenig literaturfähig galt. La Place regte eine Diskussion in einem Land an, dessen Kulturbetrieb sich mindestens ebenso elitär gebärdet, wie es die politischen und ökonomischen Kader tun. Für die damals 43-jährige Gymnasiallehrerin war das Buch vor allem ein ästhetischer Durchbruch: Sie schwor dem Fiktionalen ab und entwickelte ihren nun gefundenen Ton stetig weiter. Der autobiografisch gefärbte Purismus darf allerdings nicht als naives Nachschreiben von Erlebtem missverstanden werden.
Pierre Bourdieu, der in seiner Studie Die feinen Unterschiede über die klassifizierenden Fragen des Geschmacks, über Habitus und Reproduktionsweisen der herrschenden Schichten nachdenkt, gehört zu den Inspirationsquellen von Ernaux’ Arbeit. Wenn sie in Der Platz über ihren Vater schreibt oder in Eine Frau über die Mutter, dann strebt sie nicht in erster Linie eine psychologische Untersuchung an und geht auch nicht schwermütig auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Ihre Erzählungen oszillieren vielmehr zwischen Literatur, Gesellschaftsanalyse und Geschichtsschreibung. Es ist der karge, unaufgeregte und doch mitfühlende Ton, der die Bücher von Ernaux so faszinierend und anschlussfähig macht; ein vermeintlich distanzierter Tonfall, hinter dem die von süßer Melancholie zu unterscheidende Trauer nur umso massiver aufragt. Die Trauer entsteht aus der Scham, ins Milieu des Bildungsbürgertums aufgestiegen zu sein – zum Preis, die Verbindung zur Herkunft kappen zu müssen. In Der Platz heißt es einmal über ihren Vater: „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck, dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.“ Schreiben sei der letzte Ausweg, wenn man einen Verrat begangen habe, zitiert sie Jean Genet.
Ethnologie des Ich
Annie Ernaux sucht diesen Ausweg, der einen Bogen macht um „Erinnerungspoesie“ und „spöttisches Auftrumpfen“. Zur poetischen Reduktion gehört es, Sprechweisen der „beherrschten Klassen“ zu nutzen, Idiome und Spielformen des Alltäglichen. Am eindrücklichsten gelingt das in jenem Buch, das sie 2017 auch in Deutschland zur gefeierten Autorin machte: Die Jahre. Eine fließende Erzählung, geschrieben „in einer fortschreitenden, absoluten Vergangenheit, die die Gegenwart verschlingt“. Das Ich taucht in dieser „unpersönlichen Biografie“ nur verstohlen auf, es spricht stattdessen ein „man“ oder „wir“. Fotografien des früheren Ichs dienen der kollektiven Erzählerin als Wegweiser durch die Geschichte. Wandelnde Sitten lassen sich darin entdecken, das veränderte Verhältnis der Geschlechter zueinander, zur Sexualität, zum Konsum. Die Jahre handelt von Fremdheit und Nähe, verlorenen Illusionen und Neuerfindung.
In jedem Buch offenbart Ernaux so weitere Facetten ihres Lebens. Lange aber ahnte man, dass es da einen blinden Fleck geben müsse. Immer wieder wurde ein Ereignis nur gestreift; auserzählt wurde es erst in Erinnerung eines Mädchens (2020): Die sehnsuchtsvolle 18-Jährige reist 1958 in ein Feriencamp, wo es zu Intimitäten mit einem Betreuer kommt. Was zwischen den beiden passiert, lässt sich von einer Vergewaltigung kaum unterscheiden. Anschließend wird die junge Frau nicht mehr beachtet – eine Demütigung, die ein „Gedächtnis der Scham“ entstehen lässt. Auch eine andere Initialszene hat die Autorin erst in hohem Alter geschildert: Als Zehnjährige erfährt sie beiläufig, dass die Eltern vor ihr ein anderes Kind hatten, eine Tochter, die im Alter von drei Jahren gestorben ist. Die Kränkung, lediglich ein Ersatz für das Kind im Himmel zu sein, wird im gerade erschienenen Band Das andere Mädchen zum Urimpuls des Schreibens.
Annie Ernaux bezeichnet sich als „Ethnologin meiner selbst“. Ihre Methode ist – zwangsläufig – die teilnehmende Beobachtung. Dabei schont sie weder sich noch die Menschen, die ihr im Leben begegnen. Dieses Schreibprogramm macht sie zum Vorbild von Autoren wie Didier Eribon und Édouard Louis. Allerdings zu einem unerreichten. •
Werke von Annie Ernaux
Die Jahre
übers. v. Sonja Finck
Suhrkamp, 255 S., 18 €
Der Platz
übers. v. Sonja Finck
Suhrkamp, 94 S., 18 €
Erinnerung eines Mädchens
übers. v. Sonja Finck
Suhrkamp, 163 S., 20 €
Das andere Mädchen
übers. v. Sonja Finck
Suhrkamp, 80 S., 18 €