Die Sache mit dem Puzzeln
Spielend das Ganze zusammensetzen ist nicht nur Zeitvertreib, sondern auch der älteste Menschheitstraum überhaupt, meint Wolfram Eilenberger.
Aus Gründen, mit denen ich Sie weiter nicht belasten will (Waldhütte, Regentief), hatte ich die letzten Wochen reichlich Gelegenheit, Menschen beim Puzzeln zu beobachten. Heilig selbstvergessen saßen sie stundenlang über einen großen Holztisch gebeugt und setzten gemeinsam ein tausendfach zersplittertes Bild zusammen. Sie sahen sehr glücklich aus.
Vermutlich lag es daran, dass sie mit ihrem Tun den ältesten aller Menschheitsträume verfolgten. Denn mit unserer sogenannten Wirklichkeit verhält es sich ja wie folgt: Anstatt als stimmig strukturierte Einheit tritt sie uns zunächst als kaum zu zählende Vielheit von Einzelteilen entgegen. Sodass sich jedem, der ihr wachen Auges entgegentritt, unweigerlich die Frage stellt, wie und ob diese Partikel wohl am besten aneinanderzufügen wären. Ja, ob sie sich überhaupt jemals bündig zu einem stimmigen Ganzen formen ließen? Und selbiger Zweifel trifft natürlich auch auf das zu, was man gemeinhin als unsere Identität bezeichnet. Auch sie nichts als ein Häuflein weit verstreuter Bruchstücke, die direkt vor der Nase liegen: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“
Genau an diesem existenziellen Kernzweifel nun scheint das Puzzeln als über Jahrhunderte kultivierter Zeitvertreib des bürgerlichen Subjekts anzusetzen. Und zwar in der Form eines konkret einlösbaren Versprechens: Ja, dieser Haufen fügt sich letztlich zu einem stimmigen Bild! Ja, diese Welt ergibt letztlich einen guten Sinn. Und ich in ihr. Oder, mit Hegel gesprochen: Das Wahre ist das Ganze. Man braucht dafür nur ausreichend Geduld, geistige Sammlung sowie den nötigen Überblick.

Im Puzzeln setzt das moderne Subjekt seine lang verlorene Heilserwartung selbstermächtigt ins Werk. Vor diesem, letztlich messianischen Hintergrund ließen sich gar zwei geistige Haltungen des Puzzelns voneinander unterscheiden: Progressive Linkspuzzler nähern sich ihrem Endziel mit der moralisch befeuerten Überzeugung, diese Welt trage schon immer alles in sich, was es für eine gute und gerechte Ordnung bedürfe. Es komme eben nur darauf an, die von höheren Mächten böswillig zersplitterten Teile erstmals richtig zusammenzusetzen. Konservative Rechtspuzzler hingegen verstehen ihre Tätigkeit als eine rein restaurative: Wider allen selbstverwirrten Drang zur Vereinzelung gilt es, die ursprüngliche Ordnung in aller strahlenden Einheit zur Ansicht zu bringen.
Letztlich, das ist klar, bleiben beide Haltungen von demselben Bild gefangen: eben der handlungsleitenden Vorstellung, diese Welt sei an sich schon immer als stimmiges Ganzes gemeint. Und der Mensch in die Rolle des Masterpuzzlers der Schöpfung gesetzt. Wie das konkrete Projekt in der Regel endet, wissen wir indes alle aus eigener Erfahrung: Ob falsch verpackt, zufällig verloren oder gar absichtlich versteckt, gerade bei den wirklich großen Bildern fehlt am Ende doch immer ein entscheidendes Teil. Sollte der wahre Puzzler wirklich wünschen, dass es anders sei? •
Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist und war bis 2017 Chefredakteur des Philosophie Magazin. „Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“ erschien 2020 im Klett-Cotta Verlag (400S., 25 €)
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