Die Sache mit dem Schnürsenkel
Der Schnürsenkel soll Halt geben, aber leicht wieder zu lösen sein: Die Schlaufe findet ihre Bestimmung in vorläufiger Permanenz und schult schon kleine Menschen im Autonomiegewinn.
Erst einmal in die Lage gebracht, sich eigenständig die Schuhe zu binden, weiß man ein Erdenkind auf gutem Wege. Wie seltsam da, dass die Philosophie – mutmaßlich ja nichts anderes als die Kunst, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – diesem Phänomen in den 2500 Jahren ihres Voranschreitens keinen einzigen Gedanken, ja nicht einmal eine präzise Beschreibung gewidmet hat. Und dies umso mehr, als Menschen ihrem Schuhwerk und also Auftreten seit mindestens 5000 Jahren per intrikater Schlaufensetzung die richtige Balance zwischen Festigkeit und Flexibilität zu verleihen suchen.
Halten wir zunächst fest: Wie alles, das wahrhaft zählt, verlangt auch das Schnürsenkelbinden viel eher nach konkreter Übung als abstrakter Durchdringung. Mit rein theoretischen Mitteln kommt hier niemand ans erwünschte Ziel. Im Gegenteil. Mühsam den aufrechten Gang erlernt, gilt es im Sinne der Autonomiegewinnung, sich wieder und wieder krumm zu machen, um mit dem Haupt gen Boden eines der wesentlichen Wunder im weiten Reich der Auge-Hand-Koordination zu meistern. Denn nur wer sich mündig selbst zu binden weiß, ist wirklich reif für den entscheidenden Empathieschritt unserer Art, der da heißt: sich vorzustellen, wie es wohl wäre, „in den Schuhen eines oder einer anderen zu laufen“.
Zwischen Knoten, Halt und Fallstrick
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Kommentare
Köstlich! Eilenbergers kurze aber kunstvoll verdichtete Aufsätze sind immer wieder ein Hochgenuss!