Dostojewski und die Schuld
In seinen Romanen begegnet man Ausgestoßenen, Spielern und Mördern. Als Meister des metaphysischen Krimis lässt uns Fjodor Dostojewski in die Abgründe der menschlichen Natur blicken. Ihm zufolge sind wir alle schuldig. Das Gefühl der Schuld ist dabei nichts Zufälliges, sondern die Grundlage aller Existenz.
Albert Camus war ein großer Dostojewski-Leser: In seinem Buch Der Fall erwähnt er eine mittelalterliche Folterzelle, die er „Un-Gemach“ (malconfort) nennt. Diese ist so eng, dass der darin lebenslänglich Gefangene weder aufrecht stehen noch liegen kann. Mit diesem Bild führt uns Camus das erdrückende Leid der Schuld vor Augen: Es ist schwierig, mit dem Gefühl fertig zu werden, nicht richtig geliebt, schlecht gehandelt, etwas schlecht gemacht zu haben. Wir glauben, uns als moderne Menschen von alten Autoritäten – Göttern, Vätern, Traditionen – befreit zu haben, indem wir sie infrage stellten, leugneten, ja „umbrachten“. Doch die Schuld, die wir damit zur Tür hinausbefördert zu haben meinten, ist zum Fenster wieder hereingekommen. Denn der Versuch, die großen Anderen hinauszuwerfen, war vergeblich. Umso mehr schämen wir uns vor den „kleinen Anderen“ und uns selbst. Sind wir der Größe unseres Begehrens gewachsen? Sind wir des Vertrauens unserer Nächsten, unserer Kollegen, der Gesellschaft würdig? Warum war man heute Morgen so gestresst und hat sich den Tag dadurch verdorben, dass man immer wieder daran gedacht hat? Es ist eine Eigenheit der Schuld, dass sie sich selbst nährt.
Echte und imaginäre Verbrechen
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Kommentare
Herr Eltchaninoff,
Ihrer Essay ist nicht nur grandios und raffiniert geschrieben,.....er ist einfach brillant. Die Art und die Eleganz womit Sie den Schriftsteller und Freud zusammenbringen finde ich einfach genial.
Ich habe jede Zeile aufmerksam gelesen und den Aufbau des Diskurses sehr genossen.
Vielen Dank