Dunkel und warm
Seit Platon durchzieht das Ideal der Wahrheit und des Lichts jenseits der dunklen Höhle die Philosophie. Aber: Ist die Höhle nicht in Wirklichkeit der Ort, an dem wir glücklich, zufrieden, sicher sind? Ein Verdacht, den von Blaise Pascal bis zu Hans Blumenberg viele geäußert haben.
1989 veröffentlicht Hans Blumenberg ein Werk mit dem Titel Höhlenausgänge. Seine These ist beunruhigend: Es gibt keinen endgültigen Weg aus der Höhle, keiner ist gefahrlos zu gehen, keiner ist letzten Endes möglich. Was uns außerhalb erwartet, ist eigentlich unerträglich. Womit sind wir konfrontiert, wenn wir die Grenzen unserer Höhlen überschritten haben? Mit der Realität. Doch wir sind nicht für die Wirklichkeit gemacht und auch sie nicht für uns. Die Realität ist ein Ort, an dem wir nicht leben können. Sie macht keine Zugeständnisse, ist unseren Absichten gegenüber gleichgültig, sie kann sie sowohl erfüllen als auch vereiteln. Sie ist weder gerecht noch ungerecht, weder tragisch noch episch: Sie ist ganz einfach nur, auf massive, unwiderrufliche, unverfälschliche, „absolute“ Weise, wie Blumenberg schreibt.
Wir können sie nicht direkt angehen, wir müssen ausweichen, es listig anstellen, also Umwege und Zufluchtsorte erfinden. Darum spricht Blumenberg dem Akt des Denkens in seinem Buch Beschreibung des Menschen auch eine Funktion der Flucht und des Trostes zu: „Ausweichend denken heißt vor allem, der Nötigung zum Realismus zu entgehen (…) Gerade insofern der Mensch ein zum Realismus genötigtes Wesen ist, ist er insoweit zwar trostbedürftig, reell jedoch untröstlich.“
Die gesamte Kultur von der Rhetorik über Mythologie und Tourismus bis hin zur Poesie ist also nichts weiter als das geeignete Mittel, uns von einer direkten Beziehung mit der Wirklichkeit zu befreien. Es ist Aufgabe der Kultur, die Realität zu zähmen, indem sie uns ermöglicht, uns dieser auf einem Umweg zu nähern, durch Bilder, Metaphern, Mythen … und durch Philosophie. Letztere hat also ihren Platz nicht außerhalb der Höhle, sondern in ihrem Inneren: Sie ist aufs Engste verbunden mit unserer anthropologischen Situation, nämlich der grundlegenden Verletzlichkeit, die vor allem mit unserem aufrechten Gang zusammenhängt und den Menschen allen Blicken und Gefahren aussetzt. Sein bedeutet für Homo sapiens: sichtbar, also bedroht zu sein.
Die unerträgliche Wahrheit
Die Philosophie muss diesem grundlegenden Bedürfnis Rechnung tragen, dass wir Sicherheit und Trost in unseren Höhlen finden müssen – seien es die Höhlen der Kunst, der Liebe, der Ferien oder der Philosophie selbst. Die Begegnung mit der Realität ist für uns Menschen wie ein Aufenthalt im Maul des Löwen. Unsere Höhlen sind das Einzige, was uns für einige Zeit von den Mühen des Realismus befreit, dem wir unterworfen sind. Anders als Platon meinte, ist die Höhle also keine Falle, in der man gefangen ist, sondern ein Zufluchtsort. Und wir kommen nur auf eigenes Risiko heraus, denn wir haben nicht die richtigen Mittel, können auf keine solide Unterstützung bauen und sind angesichts der Realität völlig hilflos. Blumenbergs Position ist in nichts vergleichbar mit der Suche nach absoluter Wahrheit, wie sie die Philosophie seit Platon prägte.
In der platonischen Tradition steht die Höhle nicht nur für eine Verdunklung des Geistes, sondern auch für den Hass auf die Wahrheit. Doch um welche Wahrheit geht es? Nicht nur um die Genauigkeit von Fakten, nicht um die Gültigkeit von Erfahrungen, sondern in erster Linie um die Wahrheit über uns selbst. Denn wenn wir bis in den hintersten Winkel unserer Höhlen zu entfliehen versuchen, so ist dies vor allem eine Flucht vor uns selbst. Die Dunkelheit schützt uns vor der Angst, uns so zu sehen, wie wir sind. Uns selbst im vollen Licht zu begegnen, ließe alle Mängel sichtbar werden. So diagnostiziert Augustinus: Noch unerträglicher als die Realität der äußeren Welt ist die Realität der inneren Welt, das, was wir sind. Obwohl wir nicht getäuscht werden wollen, versuchen wir dennoch ständig, uns über uns selbst zu täuschen.
Die Höhle ist nichts anderes als diese Selbsttäuschung, diese spezielle Fähigkeit, uns unserem eigenen Blick zu entziehen. Die Menschen lieben das Licht der Wahrheit, hassen sie aber, wenn sie durch sie angeklagt werden. Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen: „Denn weil sie nicht getäuscht werden, wohl aber selbst täuschen wollen, lieben sie die Wahrheit, wenn sie sich selbst offenbart, hassen sie aber, wenn sie sie selbst bloßstellt. (…) So, ja so will auch der menschliche Geist, der genau so blind und schlaff ist, in seiner Schmach und Unehrbarkeit verborgen bleiben, sträubt sich aber, dass ihm etwas verborgen bleibe.“ Auf dem Weg von der Höhle unserer Illusionen zum strahlenden Licht der Wahrheit in der Tradition Platons gilt es also, eine entscheidende Station hinzuzufügen. Sie besteht darin, uns über uns selbst klar zu werden, uns in den Höhlen, wo wir uns vor uns selbst verstecken, aufzustöbern und daraus zu verjagen.
Gegen das kollektive Unbewusste andenken
Ein richtiger Philosoph beginnt demnach bei sich selbst. Descartes hat es gezeigt: Die Wahrheit über die Dinge und die Welt kann nicht entdeckt werden, wenn man nicht zuvor die Wahrheit über sich selbst entdeckt hat, denn der Zugang zur Realität führt nur über die Gedanken des eigenen Geistes. Es gilt also in allererster Linie diesen Geist zu verstehen und die Erkenntnis unserer selbst als Geist ist das erste Prinzip der Philosophie. Doch Descartes bekannter Weg des Cogito, um zur Wahrheit des „Ich bin, ich existiere“ zu gelangen, hätte abgekürzt werden können. Die Meditationen, insgesamt sechs an der Zahl, hätten es bei der ersten belassen können. Denn was steht in der ersten Meditation? „Aber dieses Unternehmen ist mühevoll, und eine gewisse Trägheit lässt mich in das gewohnte Leben zurückfallen. Wie ein Gefangener, der zufällig im Traume einer eingebildeten Freiheit genoss, bei dem späteren Argwohn, dass er nur träume, sich fürchtet, aufzuwachen, und deshalb den schmeichlerischen Täuschungen sich lange hingibt, so falle ich von selbst in die alten Meinungen zurück und scheue das Erwachen.“
Die Philosophie ist also kein Weg, der freudvoll und gut gelaunt aus den dunklen Verstecken unserer Höhlen ins Licht der Wahrheit führt. Es ist ein schmerzhaftes Unterfangen, wo wir bei jedem Schritt, bei jeder Überlegung der Versuchung widerstehen müssen, der Wahrheit und Erkenntnis den Rücken zuzukehren. Denn beim Denken muss man sich überwinden, gegen eine Art kollektives Unbewusstes andenken, das aus allen überlieferten und anerkannten Meinungen besteht, die man ohne Nachdenken übernommen hat – dazu gehören auch die Ansichten unserer philosophischen Lehrmeister, Platon inklusive: „Denn die gewohnten Meinungen kehren immer wieder und nehmen meinen Glauben selbst gegen meinen Willen in Beschlag“. Wer von Meinungen lebt, ähnelt „einem Blinden, der, um sich mit einem Sehenden ohne Nachteil schlagen zu können, ihn in die Tiefe einer dunkeln Höhle lockt“. (Abhandlung über die Methode)
Man kommt nicht als Cartesianer zur Welt, man wird es. Was wir beim Verlassen der Höhle gewinnen, ist nicht nur die Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch die Orientierung für gutes Handeln im Leben, sodass wir dank der heilsamen Klarheit eines richtigen Urteils ohne Bedauern oder Gewissensbisse voranschreiten können. Mit Descartes und der großen platonischen und augustinischen Tradition kann man also behaupten: „Wenn man zu leben versucht, ohne zu philosophieren, dann ist das, als halte man die Augen geschlossen, ohne daran zu denken, sie zu öffnen (…), und schließlich ist dieses Studium besonders notwendig, um unseren Sitten eine Regel zu geben und uns in diesem Leben zu leiten.“
Die Einbildung regiert die Welt
Doch was, wenn unser Glaube an die Macht der Wahrheit letztlich auch eine Illusion ist? Was, wenn der Philosoph, so wie jeder andere Mensch auch, gar nicht in der Lage ist, aus der Höhle herauszukommen? Diesen Verdacht formuliert Pascal, wenn er die schönen Ansprüche der Philosophie seit Platon mit seiner unerbittlichen Ironie bedenkt: „Wenn der größte Philosoph der Welt auf einem Brett über einem Abgrund steht, das breiter als nötig ist, dann kann ihn die Vernunft noch so sehr davon überzeugen, dass er sicher ist: Die Einbildung wird obsiegen“, schreibt er in seinen Gedanken. Für einen Philosophen gilt ebenso wie für alle anderen: Nicht die Vernunft und seine Ideen beherrschen die Welt, sondern die Einbildung.
So sind also die Wände unserer Höhlen bevölkert mit Produkten der Einbildung, Wunschvorstellungen, Theorien und Glaubenssätzen. Die Einbildung bestimmt alles, „sie macht schön, gerecht, glücklich“, so Pascal. Es gibt keine Welt der Ideen, wohin uns die Vernunft und die Philosophie führen könnten. Es gibt nur eine Wirklichkeit und das ist die Realität der Höhle. Platon und Descartes befinden sich dort in Gesellschaft ganz gewöhnlicher Menschen. „Denn die Vernunft war gezwungen, zurückzuweichen, und die Weisesten orientieren sich an Prinzipien, die die Einbildung der Menschen überall dreist eingeschleust hat“, so Pascal weiter. Überall: Deutlicher kann man es nicht sagen, dass nichts außerhalb der Höhle existiert, dass man auch nicht die Wahl hätte, in einem Ideenhimmel zu leben.
Doch das müssen wir nicht weiter tragisch nehmen: Die Einbildungswelt der Höhle, die sich auf alle Bereiche erstreckt, auf Universitäten, Bühnen und Gerichte, sie ist auch der Ort, wo wir die Möglichkeit haben, ein klein wenig glücklich zu sein. Gefangen zwar, aber glücklich. „Die Einbildung kann die Narren nicht weise machen, aber sie macht sie zufrieden.“ Sie blendet uns auf angenehme Weise. Zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. nimmt Pascal vorweg, was Blumenberg drei Jahrhunderte später in der Bundesrepublik erklären wird: „das, was wir gern die menschliche Glücksfähigkeit und das Bewusstsein des Glücks nennen, beruht weitgehend auf den möglichen Abschirmungen gegenüber der Realität. Auf der Fähigkeit zur Illusion, auf der zumindest momentanen und vom gesunden Subjekt jederzeit zurücknehmbaren Regression auf infantile Stufen des Realitätsverhältnisses. Man fährt in Urlaub, um einmal richtig glücklich zu sein, den Kontext der Realität zu brechen. Unsere ganze literarische Tradition beruht auf der Voraussetzung, dass der Mensch zeitweise auf seinen soliden Wirklichkeitsbezug verzichten kann.“ •
Laurence Devillairs ist Dekanin der Fakultät für Philosophie am Institut Catholique Paris. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich der Philosophie des 17. Jahrhunderts und dem Cartesianismus. Veröffentlichungen u.a. „Un bonheur sans mesure“ (Albin Michel, 2017) und „Être quelqu'un de bien“ (PUF, 2019).