Emanuele Coccia: „Pflanzen führen ein Leben an der Grenze“
Ohne sie gäbe es keine Aufnahme von Sonnenenergie, keine Freisetzung von Sauerstoff, keine mineralische Vielfalt, kein Tierleben. Pflanzen, so erklärt der italienische Philosoph Emanuele Coccia, führen ein grenzüberschreitendes Dasein zwischen dem Organischen und dem Anorganischen, zwischen Sonne und Erde, zwischen Boden und Luft.
Pflanzen werden oft als bloße Dekoration gesehen. Für Sie hingegen, Herr Coccia, sind sie die eigentliche Grundlage der Welt. Warum
Wir sind es gewohnt, Pflanzen auf eine bloße ornamentale Präsenz zu reduzieren. Sie sind ein Fleck im Blickfeld, sie bilden eine Theaterbühne für eine Handlung, die sich nur zwischen Tieren, die mit einem Gehirn und einem Nervensystem ausgestattet sind, abspielt. Damit hindern wir uns selbst daran, die wahre Realität des Weltgeschehens zu verstehen und zu sehen, auf welche Art und Weise es aufgebaut ist. Die erste Tatsache ist, dass das Entstehen der Tierwelt möglich ist, indem dieser Planet täglich durch Pflanzen verwandelt wird. Ihre Existenz ist ipso facto kosmogonisch: Pflanzen schaffen Welt und bewohnen sie nicht nur.
Inwiefern?
Mindestens in zweifacher Hinsicht: Erstens fangen sie die Sonnenenergie ein, die wichtigste auf diesem Planeten verfügbare Energiequelle, und stellen sie allen Tieren zur Verfügung. Sie tun dies, indem sie die Sonnenenergie in den mineralischen Körper des Planeten einhauchen und als chemische Verbindungen in komplexen organischen Molekülen speichern, die dann von Tieren verzehrt werden. Die Ernährung ist also eine Art geheimer Handel mit dem Sonnenlicht, das darüber von einem Körper zum anderen und von einer Art zur anderen gelangt. Die Lebewesen sind buchstäblich ein Teil des Mineralkörpers der Erde, der von einer „außerirdischen“ Substanz belebt und durchströmt wird. Das Sonnenlicht ist „außerirdische“ Energie und das pflanzliche und das tierische Leben sind zum Teil „außerirdisch“.
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