Entspannt euch!
Ob öffentliche Debatte oder private Gespräche: Die Fronten sind oft völlig verhärtet. Hier drei sprachphilosophische Dehnübungen, die zum gelingenden Diskurs beitragen.
Übung 1: Uneindeutige Aussagen
wohlwollend deuten
Oft sind wir mit Äußerungen konfrontiert, deren Absicht und Bedeutung mehrdeutig sind. So kann etwa die Frage „Woher kommst du?“ ganz unterschiedlich verstanden werden: als neugierige Erkundigung, Smalltalk-Floskel oder als Hinweis darauf, dass der Angesprochene nicht ins Land gehöre. In den gegenwärtigen Debatten drängt sich der Eindruck auf, dass in allen politischen Lagern stets diejenige Interpretation der Gegenpartei gewählt wird, die deren Äußerungen so moralisch verwerflich, unvernünftig oder falsch wie möglich erscheinen lässt. Es wird dann etwa die Feststellung der Gendertheorie, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt sei, als die abstruse Behauptung verstanden, dass man sich seine Identität jederzeit beliebig aussuchen und morgen auch eine Teekanne sein könne. Oder es werden Begriffe wie „schwarzsehen“ als Abwertung schwarzer Menschen interpretiert.
In der Sprachphilosophie haben demgegenüber Philosophen wie Donald Davidson schon vor Langem auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen einer wohlwollenden Interpretation und der Möglichkeit von Verständigung hingewiesen: Um die Bedeutung dessen, was der andere sagt, überhaupt zu verstehen, muss man davon ausgehen, dass die Annahmen des anderen zum großen Teil rational und richtig sind. Um dies an einem trivialen Beispiel zu verdeutlichen: Sagt jemand „Die Venus ist aus dem Meeresschaum entstanden“, verstehen wir den anderen erst in dem Moment, in dem wir davon ausgehen, dass dieser nicht etwa völlig krude Vorstellungen über die Entstehung von Planeten hat, sondern richtige über die griechisch-römische Mythologie. Interpretieren wir die Aussage des anderen als völlig falsch und unannehmbar, haben wir keine guten Gründe mehr zu glauben, dass wir überhaupt über dasselbe sprechen und wir verstanden haben, was gemeint ist. Erst auf Basis einer möglichst wohlwollenden Interpretation können tatsächliche Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden.
Natürlich gibt es Situationen, in denen wir klare Anhaltspunkte dafür haben, dass die Aussage des anderen sehr bösartig oder dämlich gemeint ist. Wenn der stadtbekannte Neonazi in aggressivem Tonfall einen Migranten nach der Herkunft fragt, wäre es schlicht blauäugig, von bloßer Neugier auszugehen. Und natürlich kann eine negative Interpretation auch schon in sehr viel subtileren Fällen, etwa aufgrund des Tonfalls oder der Mimik, naheliegen. Doch in allen wirklich bedeutungsoffenen Situationen ist es für einen gelungenen Diskurs unerlässlich, hermeneutisches Wohlwollen an den Tag zu legen.
Zum Weiterlesen: Donald Davidson: Was ist eigentlich ein Begriffsschema, in: Wahrheit und Interpretation (Suhrkamp, 1990)
Übung 2: Verletzende Begriffe aneignen
Geht man davon aus, dass bestimmte Wörter als solche immer verletzen, bleibt als Schutz nur deren (gesellschaftliche oder staatliche) Zensur. In dieser Auffassung von Sprache sind abwertende Begriffe wie Messer, die ihr Ziel nie verfehlen. Diese „magische“ Sichtweise schafft klare Verhältnisse, ist aber aus Sicht der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler so nicht zutreffend. Der (aggressive) Sprecher hat niemals die volle Kontrolle darüber, wie das Gesagte ankommen wird, so Butler in ihrem Buch Haß spricht. Wer ein Messer in den Bauch gerammt bekommt, muss ins Krankenhaus, Sprache jedoch verletzt sehr viel unzuverlässiger. Zwar liegt es nicht völlig im Belieben des Angesprochenen, sich verletzt zu fühlen oder nicht. Begriffe, so Butler, verletzen durch die Geschichte, die sie in sich tragen. Beim Wort „Neger“ ist das etwa die leidvolle Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei. Doch dies bedeutet nicht, dass man den Beleidigungen stets hilflos ausgeliefert ist. Denn die Geschichte ist in den Begriffen nicht stillgestellt, sie wird bei jeder Verwendung aufgerufen und zugleich fortgeschrieben. Diese Offenheit können diskriminierte Gruppen nutzen, um sich die Worte anzueignen und in positiver Weise umzudeuten. „Queer“ hat aufgrund genau dieses Prozesses heute kaum noch verletzendes Potenzial, sondern wurde umgedeutet zu einem Ausdruck stolzer Selbstbezeichnung. Auch das in der Rap-Szene gebräuchliche „Nigga“ ist ein Beispiel solcher Aneignung, allerdings mit der Einschränkung, dass dieses Wort, wenn es aus dem Mund eines Weißen kommt, immer noch diskriminierend ist.
Aus Butlers Sicht muss man jedoch auch hier differenzieren. Werden etwa vor Gericht verletzende Begriffe zitiert, ist das etwas völlig anderes, als wenn sie als Anrede verwendet werden. Zudem könne die Zensur, einmal zugelassen, auch von der anderen Seite genutzt werden: So gibt Butler zu bedenken, dass die Pro-Life-Bewegung den Begriff „Abtreibung“ auch am liebsten tabuisieren wolle. Die Bedeutungsaneignung ist mithin schlussendlich heilsamer als die Zensur: „Ob bestimmte Repräsentationsformen zensiert werden sollen oder der Bereich des öffentlichen Diskurses selbst eingeschränkt werden soll – immer dämpft der Versuch, Sprechen zu reglementieren, den politischen Impuls, den effektiven Widerstand des Sprechens zu nutzen.“
Zum Weiterlesen: Judith Butler: Haß spricht (Suhrkamp, 2006)
Übung 3: Sich gegenseitig als öffentliche Personen begreifen
Ein galantes Kompliment, ein schwarzhumoriger Witz oder eine formelle, nichtgegenderte Anrede werden inzwischen oft als Angriff gewertet. In vielen Fällen liegt dies an der Annahme, der andere würde als Privatperson sprechen, etwas über seinen Charakter enthüllen und den Angesprochenen ebenso persönlich anreden. In dieser Perspektive weist das Kompliment den Sprecher als Sexisten aus, der sein Gegenüber zum Objekt degradiert. Der Witzerzähler erscheint als Sadist, der die Verwundbarkeiten anderer bewusst ausnutzt. Und der nicht gendersensible Sprecher ist ein Chauvinist, der in seiner Anrede gezielt die Existenz von Frauen oder Transmenschen übergeht. Wenn Menschen sich stets persönlich meinen, werden andere zur ständigen Bedrohung.
In anderem Licht erscheinen die Dinge hingegen, wenn Menschen sich gegenseitig als öffentliche Personen wahrnehmen, die Rollenspiele vollziehen. Richard Sennett beschreibt in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, dass man sich im 18. und 19. Jahrhundert den öffentlichen Raum als Theaterbühne vorstellte. Auf dieser Bühne spielten die Personen ihre jeweiligen Rollen, wobei sie sich an den Normen der Höflichkeit, an bestimmte Kleiderordnungen und Verhaltenskodifizierungen orientierten. Wo immer diese Rollenspiele funktionieren, also virtuos durchgeführt werden, erlauben sie den Beteiligten Distanz und Kontakt zugleich. Die Menschen entlasten sich dabei gegenseitig von ihrer jeweiligen inneren Verfassung und ihrer persönlichen Identität. In der Perspektive dieser Strategie, die man „Anti-Authentizität“ nennen könnte, erscheinen auch die oben genannten Beispiele als Teil von Inszenierungen, die mehr oder weniger glücken können. Eine dumme Anmache würde nicht als Zeichen eines sexistischen Charakters, sondern als Fauxpas, als Ungeschicklichkeit verstanden werden, die man mithilfe bestimmter kodifizierter Verhaltensweisen auf eine Weise ahnden kann, die den anderen beschämt, aber nicht gesellschaftlich vernichtet.
Die Anti-Authentizität hat eine Reihe von Vorteilen: Sie erlaubt, so Sennett, lustvoll und expressiv „mit externen Selbstbildern zu spielen und sie mit Gefühl zu besetzen“. Zudem ermöglicht sie den zivilisierten Umgang mit Menschen, die nicht zur Familie, zum Freundeskreis oder zur eigenen Identitätsgruppe gehören. Darüber hinaus eröffnet sie Bereiche sachlicher Argumentation, in denen die Beteiligten von ihrer privaten Identität absehen. Das ist mithin für eine politische Gestaltung des Gemeinwesens unerlässlich.
Zum Weiterlesen: Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (S. Fischer, 2004) •