Gayatri Spivak: „Myanmars Militärführung richtet die besten Köpfe der jungen Generation zugrunde“
Am anderen Ende der Welt spielt sich derzeit ein Drama ab. In Myanmar lehnen sich die Bürger gegen die Junta auf und greifen zu den Waffen. Für die Mitbegründerin der postkolonialen Theorie Gayatri Spivak ist es unsere kollektive Verantwortung, auf die Geschehnisse zu reagieren und den Widerständigen eine Stimme zu geben.
Frau Spivak, warum haben Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt?
Normalerweise hätte ich dieses Interview nicht gemacht. Ich habe zugesagt, weil ich ein politischer Mensch bin und das Gefühl habe, dass die jungen Menschen, die heute in Myanmar Widerstand leisten, gewalttätig werden, weil internationale Reaktionen ausbleiben. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas sagen, eine kleine Stimme im internationalen Dialog sein muss. Ich habe keine exklusiven Informationen, aber ich möchte antworten, für sie sprechen, mit ihnen sprechen und über sie sprechen. Jeder muss tun, was er kann. Mein Engagement besteht in einer Art Bildung, es geht mir nicht darum, Informationen zu sammeln und zu verbreiten. So hoffe ich, dass Menschen, die viel mehr Kraft und Macht über die physische Welt haben, auch auf diese Antwort reagieren werden, die ich den Widerständigen in Myanmar zu geben versuche.
Wie würden Sie die Vorgänge in Myanmar beschreiben? Ist es ein Aufstand? Ein Bürgerkrieg? Eine Revolution?
Ich glaube tatsächlich, dass es sich um Widerstand handelt, einen sehr starken Widerstand. Bei Widerstand sind reale Subjekte innerhalb der Gemeinschaft am Werk, anders als bei abstrakteren Begriffen wie „Revolution“.
Sie haben Ihr Leben den Subaltern Studies gewidmet. Sind diese Widerstandskämpfer nach Ihrer Definition Subalterne?
Diese Menschen sind keine Subalternen im Sinne von kleinen Gruppen am Rande der Geschichte, sie sind vielmehr Bürger. Subalternen, wie zum Beispiel den Rohingya in Myanmar, wird das Recht auf Staatsbürgerschaft verweigert. Im Allgemeinen ist es für diese Gruppen am schwierigsten zu akzeptieren, dass der Staat auch ihnen gehört und dass sie das Recht haben, vom Staat etwas zu fordern. Die jungen Menschen, die heute Widerstand leisten, tun dies, weil sie das Gefühl haben, dass der Staat ihnen gehört. Somit gibt es einen echten Unterschied zwischen dieser organisierten Bewegung und den Aktionen der Subalternen. Nicht, dass die Subalternen keinen Widerstand leisten könnten, aber ihr Widerstand nimmt eine andere Form an.
Sie engagieren sich seit langem gegen den Völkermord an den Rohingya. Hat diese Gruppe irgendwelche Verbindungen zu den aktuellen Widerstandsbewegungen?
Ich kann Ihnen dazu keine aktuellen Informationen geben, aber als ich Mitte Juli aus New York abreiste, hörten wir von denjenigen, die mit den Rohingya arbeiten, dass die Widerstandsgruppen über Fragen der nationalen Einheit, der Staatsbürgerschaft usw. nachdachten und dass sie sich mit allen ethnischen Minderheiten, einschließlich der Rohingya, verbünden wollten. Aber ich weiß es nicht sicher und ich habe auch keine besonderen Informationen, die ich Ihnen dazu geben könnte ...
Viele Demonstranten unterstützen Aung San Suu Kyi im Kampf gegen das Regime, aber sie hat nichts für die Rohingya getan. Erschwert dies das Zusammenkommen der verschiedenen Widerstandsbewegungen?
In solchen Situationen, in leidenschaftlichen politischen Momenten, wenn die Menschen Widerstand leisten, kann es zu einer gewissen Idolisierung einzelner Personen kommen und sie werden zu Helden erhoben. Aber das ist für mich zweitrangig. Es ist mir eigentlich egal, wer Aung San Suu Kyi unterstützt und wer gegen sie ist. Meine Aufgabe ist nicht, zu sagen: „Haltet euch fern von denen, die sie lieben!“ Ich würde einfach sagen: Denken Sie gut darüber nach. Nicht, dass sie böse Absichten hätte, aber sie ist eine viel gewöhnlichere Person als man es nach ihrem Widerstand gegen ihren eigenen Hausarrest vermutet hätte. Es war dieser Widerstand, der sie zu einer Heldenfigur machte. Aber sobald sie frei war, musste sie sich um andere Menschen kümmern – und da zeigte sie, dass sie kein besonders mutiger Mensch war. Dass sie keine wirkliche Führungspersönlichkeit war, weil sie nicht in der Lage war, „Nein“ zu Gewalt und Korruption zu sagen.
Warum ist die Situation nun eskaliert?
Es hat so viel Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung gegeben. Es wurde alles zurückgewiesen, was ein normales rechtliches und politisches Funktionieren gewährleistet hätte, alles, was einer Normalität für die Mittelschicht nahekäme. Alles wurde in Form von Ad-hoc-Strukturen mit Bestechung, Klientelpolitik und Vendetta organisiert. Und das schon so lange! Diese Situation schafft das, was ich einen „Imperativ“ genannt habe, und was Rosa Luxemburg „Spontanität“ nannte. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonapartes (1852) ist der einzige Text, in dem Marx wirklich den Inhalt einer Revolution beschreibt. Er beschreibt die proletarische Revolution als eine Art Reaktion auf Imperative: die äußeren Bedingungen treten nach und nach zu Tage, hier und da, und „sagen“ den revolutionären Gruppen: „Es ist Zeit, macht etwas, reagiert, zeigt's uns! Und der Einzelne scheitert immer wieder, aber er bemüht sich weiter. Dieser Gedanke, dass der Imperativ von außen kommt, hat etwas mit Luxemburgs Idee der Spontanität zu tun. Dies geschieht in Myanmar, aber auch zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, mit der Schwarzenbewegung insgesamt. Die Situation all dieser Menschen hat so lange angedauert, dass etwas geschehen musste.
Sind die Menschen in Myanmar nun bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen?
Frantz Fanon hat beschrieben, wie eine Situation, in der Gewalt von oben gegen die Basis ausgeübt wird, sowie das völlig fehlende Eingehen auf die Basis, eine gewalttätige Reaktion derselben hervorruft – aber es führt auch dazu, dass die Menschen ihre Angst vor dem Tod verlieren. Wenn man es so ausdrückt, klingt es, als würden sie ergriffen, aber in Wirklichkeit ist es ein viel aktiverer Prozess. Ich zum Beispiel bin 80 Jahre alt und habe nicht sonderlich große Angst vor dem Tod, aber solch eine Gefühlshaltung ist nicht das Entscheidende im Widerstand – de facto stellt sich die Gruppe dem Tod kollektiv, statt die Angst vor dem Tod zu verlieren.
Ist Gewalt für diese Menschen inzwischen die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen?
Wenn es keine Reaktion gibt, scheint Gewalt die einzige Antwort zu sein, einschließlich extremer selbstmörderischer Gewalt – wenn man die Angst vor dem Tod verliert oder sogar den Wunsch hat zu sterben. Das ist es, was die Militärjunta der Jugend von Myanmar antut. Es ist absolut schrecklich: Die selbsternannten Militärführer des Landes richten absichtlich die besten Köpfe der jungen Generation zugrunde. So sind die aktuellen Gewaltakte dieser jungen Menschen zu verstehen: Die Gewalt, zu der sie sich verurteilt fühlen, verletzt sie selbst. Weil niemand für sie da ist.
Ist Gewalt deshalb unvermeidlich geworden?
Unvermeidlich, aber nicht notwendig, denn man sollte diese Situation nicht hinnehmen. Wenn man sich mit Gewalt Gehör verschafft, weil man seine Stimme gewaltsam durchsetzt, dann gelingt dies durch Schwächung der anderen Seite. Sich durch Angst Gehör zu verschaffen, ist daher keine dauerhafte Lösung! Wenn man wirklich eine gerechte Gesellschaft will, kann man dies nicht als gangbaren Weg betrachten: Man muss eine Gesellschaft anstreben, die langfristig in Frieden leben kann. Man könnte sogar sagen, dass dieser Gedanke mit der Ablehnung der Todesstrafe einher geht.
Ist globale Solidarität zwischen Widerstandsbewegungen Ihrer Meinung nach unerlässlich?
Diese grenzüberschreitende Solidarität ist eine gute Sache, denn es muss eine Reaktion geben, die Menschen müssen wissen, dass auch andere leiden und kämpfen. Doch diese Solidaritätsbekundungen werden nicht zu einer wirklichen Veränderung im Sinne einer Globalisierung des Widerstands führen. Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Das ist die Hoffnung von Apo [Abdullah Öcalan, kurdischer Politiker mit türkischer Staatsangehörigkeit, Anführer der berühmtberüchtigten PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans], ein wunderbarer Mensch, der seit 23 Jahren im Gefängnis sitzt und dennoch friedliebend geblieben ist. Seine Idee eines demokratischen Konföderalismus hat die politischen Strukturen der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien [Rojava] stark beeinflusst, und er wird dieses Prinzip wahrscheinlich global verbreiten wollen, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Ich denke aber, dass ihm der Nationalismus in die Quere kommen wird, denn obwohl viele Menschen der Meinung sind, dass wir heute in einer poststaatlichen Welt leben, funktionieren all unsere Indikatoren, die zu nationalistischem Wettbewerb führen, wie das BIP und der HDI, noch immer auf nationalstaatlicher Ebene. Wie ich im Vorwort zu einem Buch geschrieben habe: „Nur Kapital und Daten bewegen sich auf globaler Ebene. Alles andere läuft unter damage control“.
Kann die internationale Gemeinschaft also auch dank Kapitalismus Druck auf die Junta ausüben?
Als wir die Apartheid in Südafrika bekämpften, riefen wir zum Investitionsstopp auf. Wenn wir heute für Palästina kämpfen, setzen wir uns unter anderem für Divestment ein. Boykotte funktionieren nicht, aber groß angelegte Desinvestition schon. Meiner Meinung nach ist es äußerst schädlich, Gewalt mit noch mehr Gewalt zu bekämpfen – was jahrtausendelang das Mittel der Wahl war. Noch mehr Gewalt, die Unterwerfung jener Seite, die man im Irrtum glaubt – Gewalt gegen den Staat oder staatlich legitimierte Gewalt –, all das wird nichts lösen. Das ist nicht produktiv. Viel produktiver ist es, im Rahmen jenes Systems zu agieren, das alle schätzen: den globalisierten Kapitalismus. Indien, China, die USA und andere haben massiv in die Wirtschaft in Myanmar investiert. Darüber könnte man nachdenken. Da lassen sich gute Lösungsansätze finden. Aber ich möchte gern noch sagen, dass es mir bei meiner Arbeit um eine sehr langfristige Lösung geht, wie durch ganzheitliche Bildung ein allgemeines Streben nach sozialer Gerechtigkeit nachhaltig bewirkt werden kann.
Sie sind eine wichtige Referenz für die postkoloniale Bewegung. Hat die aktuelle Situation eine koloniale Dimension?
Wahrscheinlich. Aber ich möchte gern folgendes anmerken: Wenn man den Kolonialismus zum einzigen Problem macht, dann macht man sich blind für all die Gewalt, die ethnische Gewalt, die im Namen von antikolonialer Politik gerechtfertigt wurde! Man vergisst dabei die ethnischen Gräueltaten, die im Namen des Antikolonialismus verübt wurden. Die Regierung von Ne Win [Myanmars starker Mann, der 1962 nach einem Putsch an die Macht kam, die Regierung von U Nu stürzte und sich selbst 1988 von der Macht zurückzog], unter der es zu mehreren ethnischen Säuberungen kam, war antikolonial und bezeichnete sich selbst als sozialistisch. •
Übersetzung: Grit Fröhlich
Gayatri Chakravorty Spivak ist Professorin für Literaturwissenschaft und Direktorin des Center for Comparative Literature and Society an der Columbia University in New York. Sie gilt als Mitbegründerin der postkolonialen Theorie.
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