Go East!
Das westliche Interesse an Osteuropa erschöpft sich weitgehend in Negativfixierung und Unwissen. Höchste Zeit, jenen vielfältigen, traditionsreichen Raum zu entdecken, der sich direkt vor unserer Haustür erstreckt. Denn zwischen Warschau und Chișinău entspannt sich eine hybride Erfahrungswelt, von der man in Berlin, Paris und New York lernen könnte.
Wenn in deutschen Massenmedien von Osteuropa oder Ostmitteleuropa – im Folgenden der Einfachheit halber „Osteuropa“ – die Rede ist, liegt dieser selten ein erfreulicher Anlass zugrunde. Die Schleifung des Rechtsstaats in Polen, der klientelistische Nationalismus in Ungarn, die Korruption in Bulgarien, der Krieg in der Ukraine – diesen Themen werden Artikel und Sendungen gewidmet. Zu allem Überfluss gebricht es Osteuropa auch noch an touristisch-kulturgeografischer Mythologisierung. Ägypten, die Pyramiden. Japan, die Tempel. Neuseeland, Hobbits. Marokko, Kasbahs. Die Republik Moldau? Die Slowakei? Sogar der unmittelbare Nachbar Polen? Schaut man mit Furcht und Bewunderung auf China und die USA, verbindet man mit Tibet edelstes Mönchtum, glänzen bei der Nennung Tansanias die Augen der Safarisehnsüchtigen, so bleibt Osteuropa in der populären Imagination seltsam diffus. Das hat Tradition. Eine Tradition, die in Zeiten der Hybridisierung und der Auflösung Halt gebender Grenzen aktueller nicht sein könnte.
Die grob gesagt zwischen Deutschland und Österreich auf der einen, Russland auf der anderen Seite liegenden Länder, deren Grenzen und Herrschaftsverhältnisse sich im Laufe der Geschichte ständig verändert haben, markieren ein hybrides Dazwischen, das sich vom Westen weder als Eigenes vereinnahmen noch als Fremdes exotisieren lässt. So argumentierte der 2015 verstorbene polnische Kunsthistoriker Piotr Piotrowski, Osteuropa sei nicht das „ganz Andere“ (real other), sondern das „nahe Andere“ (close other). Polen ist das beste Beispiel dafür. Schon 1930 diagnostizierte der deutsche Kunsthistoriker Alfred Kuhn, die moderne Kunst Polens komme dem „Bedürfnis des Fremden nach Andersartigkeit kaum entgegen“. Und als der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz 1959 seine Memoiren veröffentlichte, hielt er darin lakonisch fest: „In gewissem Sinne kann ich mich als einen typischen Osteuropäer betrachten. Anscheinend stimmt es, dass man dessen spezifisches Anderssein – das äußerliche wie das innere – einfach auf eine Art Formlosigkeit zurückführen kann. (…) Mein Beispiel macht genügend deutlich, welch großer Mühe es bedarf, einander widersprechende Traditionen, Namen und ein Übermaß an Eindrücken zu verarbeiten, das heißt, in eine gewisse Ordnung zu gliedern.“ Was die Philosophie betrifft, so arbeitete sich der polnische Philosoph Tomasz Mróz noch 2019 in einem Vortrag an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew an der Frage ab, ob und falls ja, seit wann, es überhaupt eine polnische Philosophie oder doch „nur“ eine Philosophie in Polen gegeben habe.
Vielleicht speist sich die Unruhe unserer multipolaren Umbruchszeit aus dem dumpfen Wissen, dass wir nun alle Osteuropäer sind, auch in Westeuropa – Zuschauer wie auch Schauspieler in einem globalen Theaterstück mit ständig wechselnden Rollen, diversen Sprachen und widersprüchlichen Regieanweisungen. „Provincializing the West“ lautete das Motto von Piotrowski. Und tatsächlich scheint im Westen nun so langsam in der Breite durchzusickern, dass man nicht mehr allein den Ton angibt wie in den Jahrhunderten des europäischen Triumphalismus, Kolonialismus, Exzeptionalismus. Eine Erfahrung, die viele Osteuropäer in den Randzonen der Macht nur zu gut kennen. Sollen die Indifferenz oder die latente Überheblichkeit gegenüber der osteuropäischen „Peripherie“ vielleicht darüber hinwegtäuschen, dass vieles in Westeuropa selbst im Begriff ist, an die geopolitische Peripherie zu rutschen? Ohne in Kulturrelativismus oder Nationalismus-Verharmlosung zu verfallen, täte man in unseren Breitengraden auf alle Fälle gut daran, mit Blick auf Osteuropa von der Negativfixierung abzusehen und sich stattdessen zu fragen: Was ist es, das wir von Osteuropa lernen können, aus der Gegenwart wie auch der Vergangenheit?
Leider geschieht das Gegenteil. Nicht nur im deutschsprachigen Raum hat sich ein heimlicher Exotismus breitgemacht; ein Exotismus, in dem Piotrowskis „ganz Anderes“ als „unser ganz Anderes“ wiederkehrt: Je ferner die Probleme, je markanter die Identitätsunterschiede, desto größer das mediale Interesse und die Solidaritätsgesten. So ist es frappant, wie dominant US-amerikanische Diskurse und soziale Kämpfe in Europa sind. Man erinnere sich nur daran, dass die SPD in den 1980er-Jahren dem Freiheitskampf der polnischen Gewerkschaft Solidarność ablehnend begegnete, während sich die Partei heute mit Black Lives Matter solidarisiert. Die polnischen Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt während der „Baseballschlägerjahre“ (Christian Bangel), wer kennt sie noch? Wie fühlen sich Polen, deren Vorfahren zwei Jahrhunderte lang kolonialisiert, ausgebeutet, bekriegt wurden, wenn Akademiker heute mit neoessenzialistischer Verve von „white privilege“ sprechen? Und hat man letztlich, als in Deutschland oder der Schweiz Tausende trotz Corona in Solidarität mit Black Lives Matter demonstrierten, Veranstaltungen von ähnlicher Dimension in Solidarität mit Weißrussinnen oder der polnischen Opposition gesehen? Wer das eine gegen das andere ausspielt, ist ein Demagoge. Wer das eine nicht in Relation zum anderen setzt, ein Ideologe.
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Das nahe Andere
Das westliche Interesse an Osteuropa erschöpft sich weitgehend in Negativfixierung und Unwissen. Höchste Zeit, jenen vielfältigen, traditionsreichen Raum zu entdecken, der sich direkt vor unserer Haustür erstreckt. Und zu fragen: Was können wir von Osteuropa lernen? Ein Essay von Jörg Scheller.

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