20 Impulse für 2022
Sonderausgabe 20 - 2021/22Noch vor wenigen Monaten schien es so, als wäre die Pandemie mehr oder weniger vorbei. Die Impfkampagne lief auf Hochtouren, die Restaurants und Bars waren wieder voll, alles deutete auf Normalität. Die damit verbundenen Erwartungen entpuppen sich dieser Tage indes als Chimären. Vielmehr ist nun das Gegenteil der Fall. Angesichts der epidemischen Lage steht uns hierzulande eine nicht nur meteorologisch dunkle Jahreszeit bevor. Oder angemessen dramatisch mit Shakespeare gesprochen: Es droht ein „Winter of our Discontent“.
Und als ob das allein nicht reichte, geht derweil ja auch der Klimawandel weiter, für viele Menschen spitzt sich ihre berufliche und finanzielle Situation zu, die politischen Debatten gewinnen weiterhin an Schärfe. Diese Gemengelage, die man zu Beginn von Pandemiejahr drei vorfindet, ist demnach einerseits ernüchternd. Andererseits erfordert sie aber auch umso mehr Orientierung, Analyse und Nachdenken. Schließlich ist das die Voraussetzung, damit Krisen bewältigt und die Dinge besser gemacht werden können.
Die 20 Essays, die wir in diesem Heft versammelt haben, sollen nicht zuletzt genau dabei helfen. Deshalb geht es in den ausgewählten Texten herausragender Autorinnen und Autoren auch nicht nur um die Analyse des gesellschaftlichen Status quo. Vielfach werden Wege und Möglichkeiten aufgezeigt, wie wir dem Klimawandel begegnen können, unsere Arbeitswelt besser gestalten oder im alltäglichen Umgang mit unseren Mitmenschen von anderen Weltregionen lernen können. Schließlich ist die Zukunft das, was wir daraus machen. Oder angemessen hoffnungsvoll mit Hölderlin gesprochen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.“
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Themen der Edition:
Der Kampf um Identität
Wer bin ich? Diese Frage ist persönlich und intim, berührt aber immer auch gesellschaftliche Verteilungslogiken. Nicht zuletzt aufgrund dieser tiefen Zwiespältigkeit werden Debatten um Gender, Herkunft oder Glauben in den letzten Jahren immer harscher und unversöhnlicher geführt. Wie könnte jedoch ein Diskurs aussehen, der vor allem vom gegenseitigen Verstehen geleitet ist? Braucht es dafür Empathie und Rücksichtnahme oder vielmehr offenes Konfliktbewusstsein? Und welche Rolle spielen dabei Twitter, Facebook und Co.?
Mit: Amia Srinivasan, Judith Butler, William Davis, Petra Bahr
Apocalypse soon?
Dachten viele im Laufe des vergangenen Jahres, die Coronapandemie würde sich langsam, aber sicher dem Ende entgegenneigen, stecken wir hierzulande nun mitten in der vierten Welle. Und als ob das nicht schon dramatisch genug wäre, werden auch die Folgen des Klimawandels immer deutlicher: Das hat der letzte Flutsommer eindrücklich bewiesen. Wie also umgehen mit diesen Aussichten auf eine katastrophische Zukunft? Kühl und bedacht abwägen? Oder ist es Zeit für Panik?
Mit: Peter Dabrock, Charlotte Sleigh, Eva von Redecker, Naomi Klein
Von anderen lernen
Welches Verhältnis wir zu unserer Umwelt pflegen, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen oder unsere Wirtschaft organisieren – all das ist tief in unserem Selbstverständnis verankert. Umso wichtiger, regelmäßig den Blick nach außen zu richten, um die eigenen Routinen zu hinterfragen und neue Perspektiven kennenzulernen. Ob in Osteuropa, China, Japan oder Ozeanien: In vielerlei Hinsicht werden hier Dinge anders gemacht als in Deutschland. Können wir davon lernen?
Mit: Gregory Jones-Katz, Jörg Scheller, Christoph Peters, Julian Aguon
Lohn und Brot
Ein Großteil unseres Lebens verbringen wir mit Arbeit. Im Idealfall trägt uns diese nicht nur ein ausreichendes Einkommen ein, sondern auch Würde und Anerkennung. Dass das vielerorts nicht (mehr) der Realität entspricht, wurde durch die Pandemie noch einmal deutlich. Doch wie ließe sich das ändern? Welcher Lohn gilt als „leistungsgerecht“? Brauchen wir womöglich sogar eine „Erbschaft für alle“?
Mit: Michael Sandel, Christoph Möllers, Adam Tooze, Elisabeth von Thadden
Leben in Neuland
Als Angela Merkel 2005 erstmals zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, gab es weder Smartphones noch Twitter. 16 Jahre später bewegen wir uns völlig selbstverständlich in digitalen Netzwerken, sind ein Großteil des Tages online. Doch wie verändert sich dadurch unsere Gesellschaft? Geht uns der buchstäblich reale Kontakt zu unseren Mitmenschen verloren? Oder leiden wir eher an einer permanenten Überkommunikation? Und wohin führt der Weg des Sci-Fi-Kapitalismus, den Elon Musk, Mark Zuckerberg und Co. gerade einschlagen?
Mit: Ian Bogost, Patrick Stokes, Richard Kearney, Jill Lepore
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Der Kampf um Identität
Die Dialektik der Safe Spaces
Auf der Straße, bei der Arbeit oder in der Universität: Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, das allerdings niemals vollständig garantiert werden kann. Die Philosophin Amia Srinivasan erläutert, warum wir zwar das Streben nach ihr als politisches Problem ernst nehmen müssen, es jedoch auch kontraproduktive Formen der Sicherheit gibt.

„Genderismus“ als Sündenbock
Weltweit positionieren sich Regierungen und politische Gruppen gegen die „Genderideologie“. Allerdings geht es ihnen dabei nur vermeintlich um Recht und Ordnung, wie sie selbst gerne behaupten. Judith Butler argumentiert, dass der Treiber des „Antigenderismus“ in Wahrheit die Sehnsucht nach autoritärer Herrschaft und Zensur ist.

It’s the platform economy, stupid!
Der identitätspolitische Kampf um Anerkennung prägt einen Großteil zeitgenössischer Debatten. Ausgetragen wird er dabei meist auf Facebook, Twitter und Co. Damit verändert er jedoch seinen Charakter: Er wird zur heißlaufenden Reputationsökonomie, die von Versprechungen lebt, die sie nie einlösen kann.

Sondierung statt Polarisierung
Politische Debatten werden zunehmend von Selbstvergewisserungsgemeinschaften geprägt, die sich in Absolutheitsansprüchen verschanzen. Derlei kennt auch die christliche Tradition zur Genüge. Doch gerade deshalb lässt sich aus Letzterer womöglich lernen, dass Kritik nicht immer ein Angriff sein muss – und der andere womöglich auch recht haben könnte.

Apocalypse soon?
Is mir egal, ich hinterlass das jetzt so
Trotz aller Nachhaltigkeitsrhetorik pampert die Politik vor allem immer wieder die Alten, weil diese letztlich die Wahlen entscheiden. Doch damit unterminiert sie nicht nur die Solidarität der Generationen, sondern ignoriert auch 2000 Jahre Ethikgeschichte – meint der ehemalige Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock.

Poppers vergiftetes Erbe
Der Philosoph Karl Popper sah im Falsifikationsprinzip ein Kernelement wissenschaftlichen Arbeitens. Doch impliziert dieses nicht nur eine problematische Trennung von Forschung und Ethik, sondern wurde in den letzten Jahrzehnten auch zunehmend von Klimawandelleugnern oder Impfskeptikern missbraucht – mit fatalen Folgen.

Die Lehren des Waldes
Wer mit offenen Augen und den Schriften Antonio Gramscis im Gepäck durch den Wald spaziert, sieht mehr als Boden, Bäume und Blattwerk. Im Gehölz gewinnen die politischen Zusammenhänge der ökologischen Katastrophe an Kontur.

Das Ende der Illusionen
Spätestens die gewaltigen Waldbrände und verheerenden Fluten des vergangenen Jahres haben auch in den wohlhabenden Teilen der Welt ein Bewusstsein für die zerstörerische Kraft des Klimawandels geschaffen. Eindringlich appelliert Naomi Klein: Hören wir auf, so zu tun, als ob irgendjemand der ökologischen Katastrophe entkommen könnte.

Von anderen lernen
Das chinesische Silicon Valley
In der Greater Bay Area zwischen Shenzhen und Hongkong entsteht gerade die großstädtische Zukunft: ein Science-Fiction-artiges Hightech-Zentrum, das die globale Vormachtstellung des kalifornischen Silicon Valley absehbar ablösen wird. Doch zu welchem Preis?

Go East!
Das westliche Interesse an Osteuropa erschöpft sich weitgehend in Negativfixierung und Unwissen. Höchste Zeit, jenen vielfältigen, traditionsreichen Raum zu entdecken, der sich direkt vor unserer Haustür erstreckt. Denn zwischen Warschau und Chișinău entspannt sich eine hybride Erfahrungswelt, von der man in Berlin, Paris und New York lernen könnte.

Das Sumimasen-Prinzip
In der westlichen Kultur ist das Ich das Zentrum der Freiheit. Japan ist von einer anderen Geistesgeschichte getragen, mit weitreichenden Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander. Durch eine Kultur der vorauseilenden Deeskalation und gegenseitiger Rücksichtnahme offenbart sich der urbane Alltag in Tokio nämlich wesentlich angenehmer und sozialverträglicher als in Berlin oder New York. Gerade in diesen Zeiten sollte uns das ein Vorbild sein.

Absaufen? Nein danke!
Die Bewohner Mikronesiens sind von den Folgen des Klimawandels so betroffen wie kaum eine andere Region auf der Welt. Der Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller Julian Aguon erläutert, mit welchen Mitteln sie sich gegen die ökologische Zerstörung ihrer Heimat wehren und weshalb es dafür nicht nur wissenschaftliche Fakten, sondern auch alte Geschichten braucht.

Lohn und Brot
Die Würde, die wir meinen
Während hohe Einkommen und akademische Abschlüsse oft mit großem sozialen Ansehen einhergehen, werden weniger formal gebildete Menschen mit schlechter bezahlten Jobs von der Gesellschaft meist gering geschätzt. Michael J. Sandel sieht darin eine der größten Gefahren unserer Zeit und plädiert für eine neue Sicht auf die Würde der Arbeit.

Was ist eigentlich leistungsgerecht?
Die Klagen über astronomisch hohe Gehälter von Fußballspielern oder die chronische Unterbezahlung von Pflegekräften sind weitverbreitet. Doch woran kann eine Gesellschaft genau bemessen, was ein gerechter „Verdienst“ ist? Dieser Frage geht der Rechtsphilosoph Christoph Möllers nach dem Besuch eines Schachturniers nach.

Die Coronakrise war vielleicht erst der Anfang
Seit zwei Jahren leben wir in einer Pandemie. Die finanzpolitische Reaktion auf diese anhaltende Krise bestand dabei vor allem im Drucken von Geld. Das machte deutlich: Wenn Regierungen wirklich wollen, sind vermeintliche Haushaltszwänge kein Problem. Für kommende Krisen müssen daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Erbschaft für alle?
Zu den Kernversprechen der liberalen Leistungsgesellschaft gehört seit jeher, dass jeder, der hart genug arbeitet, irgendwann Wohneigentum erwerben kann. Dass sich das heute als große Illusion entpuppt, gefährdet die Grundfesten der Demokratie. Abhilfe könnte eine unkonventionelle Maßnahme schaffen.

Leben in Neuland
Zu viel Gerede
Die Diskussionen auf Facebook, Twitter und Co. sind oft von Missgunst, Hass und Häme geprägt. Daran werden auch einzelne technische Neuerungen oder sogar die Zerschlagung von Tech-Konzernen nichts ändern. Es hilft nur, an die Wurzel allen Übels zu gehen: Es braucht eine Beschränkung unserer Online-Kontakte.

Können Tote E-Mails schreiben?
Seit jeher stellte die elektronische Fernkommunikation herrschende Vorstellungen des Todes infrage: Telegraf und Telefon hatten etwas buchstäblich Jenseitiges, sodass viele Zeitgenossen auf eine Hotline zu den Verstorbenen hofften. Heute, im durchdigitalisierten Zeitalter, offenbart sich dieses Phänomen auf neue Art: Wie umgehen damit, wenn Menschen nach ihrem Tod noch digital „weiterleben“?

Willkommen im Symbiozän
In unserer vom Digitalen dominierten Kultur nimmt der Tastsinn nur noch nachrangige Bedeutung ein, was uns zunehmend vor Probleme stellt. Wir sollten deshalb Offline-Aktivitäten und neuen Haptotechnologien Raum lassen, meint Richard Kearney.

Muskismus – ein Universum für Superreiche
Die reichsten Männer der Welt treiben ihre Geschäftsmodelle auf die nächste Stufe. Sei es durch die geplante Besiedlung des Mars oder die Erschaffung einer virtuellen Realität. In dieser Art des extraterrestrischen Extremkapitalismus scheinen Börsenkurse weniger von Profiten als von Science-Fiction-Fantasien getrieben zu sein. Dumm nur, dass Elon Musk, Mark Zuckerberg & Co. die von ihnen bewunderten Science-Fiction-Autoren offensichtlich radikal missverstanden haben.
