Erbschaft für alle?
Zu den Kernversprechen der liberalen Leistungsgesellschaft gehört seit jeher, dass jeder, der hart genug arbeitet, irgendwann Wohneigentum erwerben kann. Dass sich das heute als große Illusion entpuppt, gefährdet die Grundfesten der Demokratie. Abhilfe könnte eine unkonventionelle Maßnahme schaffen.
Vielleicht war die Aufmerksamkeit zuletzt einfach abgelenkt. Vielleicht hat unsere Gesellschaft die Sache mit dem Eigentum für eine Weile kaum bedacht, weil das Wirtschaftswachstum lange beruhigend wirkte. Dann kam Corona. Nun, da die liberale demokratische Ordnung sich vielerorts in ein politisches Erdbebengebiet verwandelt, fällt auf, dass die verbreitete Schwierigkeit, Eigentum zu erwerben, politisch brenzlig werden kann. Die einen besitzen Wohnungen, die meisten mieten sie, das war in Deutschland immer schon so, doch seit ein paar Jahren verschiebt sich etwas. Nun wird es spürbar: Der coronamüde Mittelschichts-Nachwuchs, der nichts besitzt, hat mit seinen frisch zerknickten Biografien allen Grund, nervös zu werden, wenn er an fällige Mietzahlungen denkt. Wer jetzt kein Haus hat, kauft sich keines mehr – wenn er nicht zu den Erben gehört.
Eine unauffällige Studie des Instituts empirica hat gerade ermittelt, die Zahl derer, die in den eigenen vier Wänden leben, sei in Deutschland erstmals rückläufig. Es fehle an jungen Käufern. Der Eigentumserwerb scheitere daran, „dass die Ersparnisse und damit das Eigenkapital“ nicht mehr mit den explodierenden Preisen am Immobilienmarkt mithalten. Egal wie man rackert und spart, das Geld reicht nicht, um in einer der begehrten städtischen Wohnlagen, von wo es nicht weit zu guter Arbeit und guten Schulen ist, mit denjenigen konkurrieren zu können, die geerbt haben oder das nötige Eigenkapital von einem freundlichen Großonkel geschenkt bekommen. Durch das Erben und Schenken entsteht heute ein groteskes Zerrbild jenes demokratischen Urversprechens, dass alle gleichermaßen die Chance hätten, von unten nach oben zu gelangen, ungeachtet ihrer Geburt. Jeder sollte in der Lage sein, Eigentum zu bilden, um ein freier Bürger zu sein. Deshalb verkündete Bundeskanzler Adenauer 1952 den Wählerinnen und Wählern großväterlich, „das Eigenheim“ dürfe „kein Reservat kleiner Schichten sein“, im Gegenteil, „gerade der Besitzlose“ solle „durch Sparen und Selbsthilfe und öffentliche Fördermittel zum Eigentum gelangen“. Die Idee der Leistungsgesellschaft in freiheitlichen Demokratien, mit dreifacher Betonung auf Leistung, auf freiheitlich und auf Demokratie, war in ihrer deutschen Variante der Nachkriegszeit auch als Aufgabe für den Staat gedacht.
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