Die Lehren des Waldes
Wer mit offenen Augen und den Schriften Antonio Gramscis im Gepäck durch den Wald spaziert, sieht mehr als Boden, Bäume und Blattwerk. Im Gehölz gewinnen die politischen Zusammenhänge der ökologischen Katastrophe an Kontur.
Ich habe lange gebraucht, um mich ans Spazierengehen zu gewöhnen. Wer in der Landwirtschaft aufwächst, ist ohnehin ständig draußen und in Bewegung. Da muss man, wenn mal Ruhe ist, nicht noch in der Gegend herumlaufen. Der Vorgang des Spazierengehens kommt mir immer noch komisch vor – besonders in Gesellschaft. Denn die Mitspaziergänger:innen wollen ununterbrochen reden. Über Politik, Arbeit, ihr Leben, mein Leben. Wo bleibt da der Wald? Wenn ich allein spazieren gehe, versuche ich es als Pirsch zu gestalten. Eine reine Pirsch, bis auf Weiteres ohne Jagdabsicht: Man spitzt die Ohren, schärft den Blick und vertieft sich in den Wald. Der Ruf des Eichelhähers verhallt, es wird stiller. Ich sehe ein Rudel Rehwild, bevor die Tiere mich erspäht haben, und halte beobachtend den Atem an, bis sie doch Wind kriegen von der Anwesenheit meines unvertrauten Körpers.
Eigentlich sollte ich gar nicht mehr hier sein in Brandenburg, sondern in Verona, wo ich seit Ende letzten Jahres Forschungs-Fellow bin. Mein Stipendiengehalt beziehe ich auch in Abwesenheit und habe mir als Erstes ein im Gefängnis verfasstes Werk angeschafft: Antonio Gramscis Gefängnishefte. Italienische Theorie, auch wenn die italienische Praxis noch warten muss. Der Kommunist und Gründer der italienischen KP, der in den 1920er-Jahren das Aufkommen des Faschismus direkt erlitten und scharf beobachtet hat, ist unverzichtbare Lektüre für mein Forschungsprojekt zur Theorie des autoritären Charakters.
Ich schlage eine andere und größere Runde um den Wald ein als sonst. Mein Blick schweift durch die Baumwipfel. Es gibt seit einigen Jahren deutlich mehr Sturmschäden. Die Bäume werden durch Trockenheit krankheitsanfälliger. Nach dem dritten Dürrejahr in Folge füllt sich auch im Winter der Grundwasserspiegel nicht mehr auf. Der Temperaturanstieg verlängert zudem die Brutperiode des Borkenkäfers um einen zusätzlichen Zyklus, sodass die Bäume stärkeren Angriffen ausgesetzt sind. Und es gibt durch die Klimaveränderungen heftigere Winde aus ungewohnten Richtungen. Gebrechliches Holz, das lange im Windschatten stand, wird plötzlich umgerissen. Meist fallen die Bäume im übermäßig dicht gepflanzten Wald nicht, sondern verhaken sich im Geäst der Nachbarn. „Hängende Bäume“ sind der Albtraum jedes Forstwirts. Jeder, der eine Unterweisung zum Motorsägengebrauch bekommen hat, kennt das Lehrvideo, in dem so ein unter Spannung stehender Stamm, an der falschen Stelle angesägt, plötzlich birst, hochschnellt und hundert Meter weiter einen anderen Waldarbeiter erschlägt. Meine Pirsch gilt nicht nur Fährten auf dem Boden. Ich schaue auch immer wieder hoch, ob etwas bedrohlich über meinem Kopf hängt, und wenn ja, ob es leise knackt und so Bewegung verrät.
Humus oder Hindernis
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo