Brauchen wir eine linke „Ästhetisierung der Politik“?
Der italienische Marxist Antonio Gramsci entwickelte bereits in den 1920er Jahren das Konzept der „kulturellen Hegemonie“. Während jedoch die progressiv-liberale Linke versucht, weiter mit Sachlichkeit zu trumpfen, nutzen die Rechten diese ideologische Taktik bereits weltweit. Ist es Zeit für ein strategisches Umdenken?
„Es kann und es muß eine ‚politische Hegemonie’ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben.“ Diese Worte stammen aus den zwischen 1929 und 1935 verfassten Gefängnisheften des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci. Philosophiehistorisch betrachtet handelt es sich hierbei in erster Linie um eine Absage an das klassisch-marxistische Schema von ökonomischer „Basis“ und ideologischem „Überbau“. Einer orthodoxen, historisch-materialistischen Auffassung folgend „determiniert“ die „Basis“ (die sogenannten „materiellen Produktionsverhältnisse“ einer Gesellschaft) vollständig die konkrete Ausgestaltung des „Überbaus“ (alles von Religion und Moral bis Recht und Politik). Das Sein, so Marx, bestimme das Bewusstsein, nicht etwa andersherum. Gramscis Konzept einer bereits vor dem Machtantritt notwendigen Hegemonie verkompliziert und differenziert dieses Schema. Wie schon bei Lenin oder Luxemburg handelt sich nicht mehr um ein klares Primat des Ökonomischen über das Politische. Hinzu kommt nun bei Gramsci — zeitgleich mit einigen anderen Denkern des frühen 20. Jahrhunderts, etwa Lukács oder der frühen kritischen Theorie — die vorrevolutionäre Arbeit an der Kultur.
Denn Hegemonie muss, um zu gelingen, auf einem breiten Feld verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche errungen werden. Ein wichtiger — bei Gramsci aber lange nicht der einzige — dieser spezifischen Fälle ist der einer „kulturellen Hegemonie“: Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Musik, Kunst und Kultur ist die zentrale Vorarbeit für die Revolution. Obwohl der Begriff der kulturellen Hegemonie von Gramsci selbst gar nicht explizit verwendet wird, fand er eine breite Rezeption, und wurde besonders von der unter dem Namen „Postmarxismus“ firmierenden Theorieströmung um Ernesto Laclau und Chantal Mouffe herum aufgegriffen. Dieser größere Fokus aufs Kulturelle ist nicht zwangsläufig eine Verkürzung von Gramscis Theorie. Er stellt im heutigen global vernetzten Informationszeitalter, in dem wir immer mehr Zeit in digitalen Diskursräumen verbringen, eine durchaus einleuchtende Weiterentwicklung dar.
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