Bewusstseins-Muster
In seiner Kolumne aus der aktuellen Ausgabe widmet sich Gert Scobel dem Buch Wie wir denken, wie wir fühlen von Antonio Damasio, der die Neurowissenschaft mit philosophischen Augen betrachtet.
„Die Intelligenz der Bakterien“, schreibt der Neurowissenschaftler und Psychologe Antonio Damasio, „ist verborgen und nicht explizit“. Warum? Weil Intelligenz die Fähigkeit ist, Probleme zu lösen. Und genau das tun auch Bakterien – nur dass wir ihre Lösungen häufig weder sehen noch verstehen. Es gibt nichts in ihnen, was in der Lage wäre, ein zentrales „Problemlösungsorgan“ oder gar eine Art „Geist“ aufzubauen. Nicht einmal das Muster, nach dem sie sich organisieren, ist uns klar. Intelligentes Verhalten geht also auch ohne – Geist. Ist das ein Problem?
Für viele Philosophen ist das offensichtlich so. Die verdeckte, nicht explizite Intelligenz macht ihnen ebenso zu schaffen wie die Bewusstseinsleistungen von Tieren, etwa Tintenfischen. Wie Damasio zeigt, erfordern explizite Intelligenz und explizites Bewusstsein, die wir uns selbst zuschreiben, tatsächlich „die Konstruktion und Speicherung bildhafter Muster durch den Organismus“. Damit dies geschehen kann, bedarf es solcher Fähigkeiten wie wahrzunehmen, zu fühlen oder sich zu erinnern. All das basiert wiederum auf räumlich kartierten Mustern, die wir „mental besichtigen“ können, um mit ihnen zu arbeiten.
Zucker im Tee der Empirie
Aber das ist nur ein winziger Ausschnitt dessen, was auf dem Weg zur bewussten Verarbeitung und Steuerung komplexerer Lebewesen erforderlich ist. Letztlich zielen diese Vorgänge darauf ab, eine Homöostase zu erreichen, das heißt, den Fluss all dessen, was ein Lebewesen einsetzt und verbraucht, in einem lebensnotwendigen Gleichgewicht zu halten. Das verlangt ein kompliziertes System von Regulationsmechanismen. Das Bewusstsein ist ein solches System. Aber Bewusstsein ist eben noch nicht – Geist.
Damasio argumentiert klug: Zweifellos wird es Wissenschaftlerinnen und Philosophen geben, die hier und dort Korrekturen anbringen wollen, und natürlich ließen sich Kontroversen anschließen. Doch der Neurowissenschaftler ermöglicht es, sehr präzise empirische Erkenntnisse mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden. Eine an der Realität und ihrer Struktur desinteressierte Philosophie, die es zweifellos gibt, erweist sich dagegen als inhaltsleer und lebensfern. Damasio verfolgt in seinem Buch erkennbar eine zutiefst philosophische Frage und taucht sie, wie ein Zuckerstück, in den Tee der Empirie. Ein Materialist würde vermuten, dass das Zuckerstück sich restlos auflöst. Nicht so Damasio. Er ist ein Wissenschaftler, der beobachtet, dass der Würfel nicht völlig verschwindet. Genau das macht sein Buch so spannend – und zu einem interessanten philosophischen Werk, das den Vorteil hat, zugleich raffiniert und kompetent über den Stand der Bewusstseinsforschung zu informieren. •
Antonio Damasio: Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins; Übers. v. Sebastian Vogel Hanser, 192 S., 22 €
Gert Scobel ist Honorarprofessor für Philosophie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und moderiert auf 3sat die Sendung „Scobel“. Seit 2011 ist er Kolumnist des Philosophie Magazins.
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Wir sind so frei wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Und doch fühlen wir uns oft gefangen, erdrückt von Anforderungen, getrieben durch inneren Leistungszwang. Was wäre das für ein Dasein, könnten wir es auskosten. Den Augenblick genießen, anstatt ihn zu verpassen. Aus schalen Routinen ausbrechen, weniger arbeiten, Neues wagen – im Zweifelsfall auch gegen gesellschaftlichen Widerstand. Mehr Muße, mehr Lebendigkeit, mehr Spontaneität: Warum packen wir Kairos nicht beim Schopfe, wagen den entscheidenden Schritt? Sind wir zu feige? Zu vernünftig? Zu faul? Christoph Butterwegge, Claus Dierksmeier, Nils Markwardt, Robert Pfaller, Richard David Precht und Nina Verheyen über Wege in eine freiere Existenz.