Wenn Computer simulieren
In seiner Kolumne aus der aktuellen Ausgabe widmet sich Gert Scobel dem Buch Tiefen der Täuschung von Anne Dippel und Martin Warnke, die sich fragen, wie Wirklichkeit im digitalen Zeitalter entsteht.
Die Grundfrage dieses Buches führt in den erkenntnistheoretischen Maschinenraum, in dem sowohl Philosophinnen als auch empirische Wissenschaftler arbeiten: Wie weit reichen Erkenntnisse, die durch Computersimulationen gewonnen werden? Seit geraumer Zeit steht die Behauptung im Raum, Computersimulationen könnten und würden Theorien ersetzen. Alles, was man bräuchte, seien rohe Daten, über die man Mustererkennungs-Algorithmen laufen lasse: Der Rest ist Warten auf das Ergebnis. Doch die Methoden der Messung und der Messvorgang selbst stellen nicht selten einen Bruch im Theoriegebäude dar, vor allem wenn die Messung, wie in der Quantenphysik, das Ergebnis beeinflusst.
In ihrem Buch Tiefen der Täuschung gehen die Kulturanthropologin und Historikerin Anne Dippel und der Physiker Martin Warnke dieser Behauptung nach: dass Theorien auch ohne die klassische Annahme erster Prinzipien (und bestimmter mathematischer Verfahren wie Differenzialgleichungen) gebildet werden könnten, allein durch die computergesteuerte Datenauswertung von Simulationen. Wie? Indem man eine Theorie dank Rechenleistung mit der Simulation massenhafter Vorgänge konkurrieren lässt.
Von Wellen und Teilchen
Manche sehen darin – Stichwort Verwechslung von Korrelation und Kausalität – die Anzeichen einer tiefgreifenden Täuschung und digitalen Verblendung. Aber so einfach ist es eben nicht, erklären Dippel und Warnke. Es geht um eine schleichende Veränderung aller bisherigen Verfahren, denn tatsächlich verschieben sich die epistemischen Grenzen bereits: nicht nur durch Computersimulation im Labor, sondern auch durch Deep Fakes in den sozialen Medien. Ein wesentliches Element des Paradigmenwechsels besteht darin, dass es in Simulationen aktive Komponenten gibt, die sich durch Rückkopplung verändern können. Dadurch aber entstehen neue Probleme, die das Buch auf bestechende und philosophisch aufregende Weise thematisiert.
Dippel und Warnke beziehen ihre Untersuchungen auf ein physikalisches Zentralexperiment der Neuzeit: das sogenannte Doppelspaltexperiment, das bis heute Verwirrung stiftet. Keine Sorge: Das Experiment und seine klassischen Deutungen (Bohr, Heisenberg, Schrödinger, Einstein & Co.) werden verständlich, spannend und mit großer Kenntnis erläutert. Vereinfacht gesagt: Licht, also elektromagnetische Strahlung, kann sowohl als Welle wie auch als Teilchen völlig korrekt und dennoch scheinbar widersprüchlich beschrieben werden. Ein Fazit des Buches: Auch wenn die Geisteswissenschaften gerne als „soft science“ disqualifiziert werden, weichen Simulationen inzwischen den „harten“ Wahrheitsbegriff der empirischen Wissenschaften auf. Ob mit Erfolg und mit welchen Folgen, wird sich zeigen müssen.
Anne Dippel, Martin Warnke: Tiefen der Täuschung. Computersimulation und Wirklichkeitserzeugung; Matthes & Seitz, 173 S., 22 €
Gert Scobel ist Honorarprofessor für Philosophie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und moderiert auf 3sat die Sendung „Scobel“. Seit 2011 ist er Kolumnist des Philosophie Magazins.
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