Das Ganze des Menschen
In seiner Kolumne in der aktuellen Ausgabe widmet sich Gert Scobel dem Buch Der Ursprung der Religion von Robert N. Bellah. Darin erfährt man, wie Religion und Philosophie entstanden sind und warum sie untrennbar zusammengehören.
Eine Vernunft, die glaubt, sie wäre ganz und gar vernünftig, ist keine vernünftige Vernunft und wird es auch nie werden. Doch was fehlt ihr? Jürgen Habermas hatte der Beantwortung dieser Frage nahezu 1800 Seiten gewidmet, indem er die Philosophie in Zusammenhang mit ihrer theologischen Vorgeschichte untersuchte. Bei Robert N. Bellah beansprucht dieses Thema knappe 900 Seiten. Der Philosoph und der nicht minder berühmte US-amerikanische Soziologe, der 2013 starb, kannten und schätzten einander. Auf Bellah geht nicht nur der so wichtige Begriff der Zivilreligion zurück; in seinem jetzt erschienenen Opus Magnum Der Ursprung der Religion erforscht er ihr Entstehen an den alten Zivilisationen Israels, Griechenlands, Indiens und Chinas. Zunehmender Pluralismus oder das wachsende Bedürfnis nach Selbstreflexion sind nur zwei von vielen „Kennzeichen“ der Moderne, die sowohl Bellah als auch Habermas teils mit Bezug aufeinander herausgearbeitet haben. Der Soziologe und der Philosoph machen klar, wie und warum sich die Moderne die Begrifflichkeit theologischer Dogmatik und religiöser Überlieferungen angeeignet und in begründungsfähiges Wissen zu transformieren versucht hat. Und beide kommen natürlich auf die berühmte Achsenzeit zu sprechen. Doch Bellah scheint hier im Vorteil: Zum einen ist er ein profunder Kenner asiatischer Traditionen, zum anderen bezieht er stärker als Habermas die Evolutionsgeschichte ein.
Verwandte Traditionen
Dass sich Bellahs unvollendetes letztes Werk mit Religion befasst und damit eine Rückbindung thematisiert, durch die das „Ganze“ des Menschen in den Blick zu kommen scheint, mag erstaunen. Völlig falsch aber wäre die These, eine solche Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens und eben nicht nur des Wissens sei auch eine Frage des Alters. Im Grunde ist das Buch, das voller kluger Einsichten steckt, selbst ein Beleg dafür, dass uns heute etwas fehlt: auch wenn „es“ nicht mehr so gesagt und gelebt werden kann wie im Indien oder im Griechenland der Achsenzeit. Bellah zeigt, dass es höchste Zeit ist, die Verwandtschaft beider Traditionen auch im westlichen Kanon anzuerkennen. Sein Buch ist eine Geschichte der Philosophie der Menschheit, zu der das Dao ebenso selbstverständlich gehört wie die Philosophen Mengzi und Xunzi. Neben der ausgezeichneten Übersetzung von Christine Pries und dem Mut des Verlags, sich dieses bereits 2011 erschienenen Werkes anzunehmen, ist vor allem die exzellente Einführung von Hans Joas zu loben: einer der besten Texte, die es im deutschsprachigen Raum über diesen großartigen Denker gibt. Dass Bellah kaum von deutschsprachigen PhilosophInnen, TheologInnen und SoziologInnen zur Kenntnis genommen wird, ändert sich vielleicht endlich mit diesem Buch. •
Robert N. Bellah Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit Übers. v. Christine Pries Herder, 904 S., 99 €
Gert Scobel ist Honorarprofessor für Philosophie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und moderiert auf 3sat die Sendung „Scobel“. Seit 2011 ist er Kolumnist des Philosophie Magazins.
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