Was ist eigentlich leistungsgerecht?
Die Klagen über astronomisch hohe Gehälter von Fußballspielern oder die chronische Unterbezahlung von Pflegekräften sind weitverbreitet. Doch woran kann eine Gesellschaft genau bemessen, was ein gerechter „Verdienst“ ist? Dieser Frage geht der Rechtsphilosoph Christoph Möllers nach dem Besuch eines Schachturniers nach.
1. Eine meritokratische Gesellschaft, also eine, in der „Verdienst“, wie auch immer man dieses definiert, der einzige Grund für Status und Erfolg ist, sähe vermutlich nicht wie ein Golfclub aus. Sähe sie vielleicht aus wie ein Schachclub? Den Golfclub stellen wir uns als Verein mit homogener Mitgliedschaft besserer Stände vor. Diese Homogenität wird durch Mitgliedsbeiträge gesichert. Die Mitglieder beanspruchen einen sozialen Status, von dem sie nicht selten glauben dürfen, sie hätten ihn verdient. Jedenfalls tendieren Menschen mit wachsendem Erfolg dazu, diesen für berechtigt zu halten.[1]
Erfolg lässt sich zudem einfach darstellen, namentlich in Geld. Verdienst dagegen ist eine unklare und umstrittene Figur. Dazu passt es, dass der Status in einem Golfclub oft nicht von der gut messbaren sportlichen Leistung abhängen dürfte, sondern von anderen Umständen. Den Golfclub verdienen sich manche durchs Golfspiel. Für andere ist er eine Institution, in der externer Erfolg intern abgebildet wird.
2. Wie stellen wir uns einen Schachclub vor? Seine Mitglieder drehen sich in heiliger Einseitigkeit um das Schachspiel. Niemand sucht ihn auf, um aus der Mitgliedschaft soziales Prestige zu schöpfen oder nach außen darzustellen, auch nicht, um Beziehungen zu knüpfen, die über das Spiel hinausgehen. Das zeigen schon die Örtlichkeiten, nicht am angelegten See mit Hügel, sondern in Plätzen umhegter Marginalisierung wie Alten- oder Jugendzentren. Wenn überhaupt, trete ich in den Schachclub ein, um dort etwas zu erlernen, was mir dabei hilft, auch in den Golfclub zu kommen – jedenfalls dann, wenn Schach mich schlauer machen sollte.[2] Im Schachclub geht es zunächst aber nur um Schach. Erfolg und Verdienst fallen insoweit in eins. Diesen Erfolg zuverlässig zu messen, ist eine Sache, die kaum eine Institution mit solchem Perfektionismus verfeinert haben dürfte wie die Gemeinschaft der Schachspielenden: Ausgeklügelte Turnierformate und ein System von Leistungskennzahlen (ELO, DWZ), samt verfeinerter Sekundärkriterien stellen sicher, dass die Qualität aller Spielenden vergleichbar und damit hierarchisierbar wird. Wenn es zuträfe, dass die Begabung zum Schachspiel Intelligenz indiziert oder gar fördert und dass Intelligenz eine sozial relevante Eigenschaft ist, könnte man sich dennoch wundern, warum Schachclubs nicht die Golfclubs unserer Zeit sind. Anders formuliert: Während im Golfclub sozialer Erfolg von außen nach innen transportiert wird, könnte es beim Schachclub doch umgekehrt sein. Gut Golf zu spielen, dürfte als Indikator für andere Fähigkeiten nur begrenzt aussagekräftig sein, gut Schach zu spielen schon eher. Schließlich ist die Suche nach Talent gerade im naturwissenschaftlichtechnischen Bereich ein großes Thema der allgegenwärtigen Innovationssemantik. Wenn ich in einen Golfclub eintrete, um Beziehungen mit sozialem, finanziellem oder politischem Kapital zu knüpfen, warum gehe ich dann nicht in einen Schachclub, um intellektuellem Kapital zu begegnen oder dieses zu rekrutieren? Warum ist es nicht attraktiver, jemanden mit einem IQ von 140 kennenzulernen als den örtlichen Bankchef?
Beim Besuch eines Nachwuchsschachturniers in Deutschland fallen einige Dinge auf, die eine anekdotische Antwort liefern könnten. Da ist der relativ hohe Anteil an migrantischen Jugendlichen, der freilich nicht repräsentativ für die Verteilung von Migration in Deutschland zu sein scheint: Viele Asiaten, insbesondere Kinder vom indischen Subkontinent und aus China, sowie viele aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wenige aus der Türkei, Italien oder dem vormaligen Jugoslawien sind da. Auf den ersten Blick verbindet Schach eher Menschen, die trotz überdurchschnittlich hoher Intelligenz einen ordentlichen, aber nicht überragenden Weg durch die Statushierarchie der bundesdeutschen Gesellschaft zurückgelegt haben. Sicherlich sind die Kinder, die am Schachturnier teilnehmen, privilegiert. Aber dieses Privileg fällt nach Kleidung und Habitus nicht ins Auge. Der Blick auf Kinder und Eltern hinterlässt eher den Eindruck, dass Schach nicht mehr der bürgerliche Sport ist, als den ihn die leider spärliche Schachsoziologie für die Vergangenheit beschrieben hat.[3] Das Bild vom Schachspieler ist heute nicht mehr das des bürgerlichen Mannes mit Pfeife im Wohnzimmer, sondern eher das eines Nerds, der im Rahmen eines festen Regelwerks reüssiert, das ihm vergleichsweise wenige soziale Fähigkeiten, Manieren, keine Konversation, keine Geschmeidigkeit abverlangt, dafür aber eine weitgehend sozial entkleidete Form von Denkfähigkeit, die sowohl analytisch als auch kreativ-synthetisch ansetzen muss und die ihrerseits großen Fleiß voraussetzt, um sich entfalten zu können. Nun lässt sich das Bild der sozial entkleideten Denkfähigkeit in zwei Richtungen weiterentwickeln: Einerseits erinnert es daran, dass es reine Intelligenz nicht gibt und dass wir uns einen sozialen Gebrauch intellektueller Fähigkeiten immer als Leistung denken müssen, die mit anderen Leistungen verbunden ist, die diese Fähigkeiten vermitteln und anwenden. Kant stellt zur Urteilskraft in der ersten Kritik fest, dass es für sie nicht genüge, die Regeln zu kennen, man vielmehr wissen müsse, wie sie anzuwenden seien. Dieses Wissen erfordere praktische Lebenserfahrung und Kenntnis der Welt. So gesehen ist das Schachspiel sicherlich keine Schule des Lebens. Auf der anderen Seite fungiert die soziale Einbettung von intellektuellen Fähigkeiten als Einbruchstelle für die Etablierung und Verfestigung eines Systems sozialer Ungleichheit, in dem Umgangsformen mehr zählen als Problemlösungsfähigkeit. Dass sozialer Aufstieg in Deutschland an Sekundärfähigkeiten hängt, die wenig mit Talent oder Fleiß, aber einiges mit sozialer Herkunft zu tun haben, ist oft beschrieben.[4] Immerhin spricht sich die Einsicht, dass man seltsame Talente nehmen sollte, wie sie sind, um sie gesellschaftlich nutzen zu können, langsam herum. Populär wird sie in der Figur der Autistin, die zunächst nicht ernst genommen wird, obwohl sie als Einzige durchblickt.[5]
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