Zu viel Gerede
Die Diskussionen auf Facebook, Twitter und Co. sind oft von Missgunst, Hass und Häme geprägt. Daran werden auch einzelne technische Neuerungen oder sogar die Zerschlagung von Tech-Konzernen nichts ändern. Es hilft nur, an die Wurzel allen Übels zu gehen: Es braucht eine Beschränkung unserer Online-Kontakte.
Ihr Sozialleben hat eine biologische Grenze: 150. Das ist die sogenannte Dunbar-Zahl. Die Zahl von Menschen also, mit denen Sie bedeutungsvolle Beziehungen führen können, die der britische Psychologe Robin Dunbar vor drei Jahrzehnten vorschlug. Wann ist eine Beziehung bedeutungsvoll? Dunbar gab der New York Times eine griffige Antwort: Gemeint sind „jene Menschen, die man gut genug kennt, um sie zu grüßen, ohne dass es einem peinlich ist, wenn man ihnen in einer Flughafen-Lounge begegnet“. Dunbars Konstrukt beschreibt Beziehungen nach verschiedenen Ebenen der Intimität. Wir können davon ausgehen, dass wir bis zu 150 produktive Bindungen entwickeln, aber unsere intimsten und damit engsten Beziehungen haben wir nur zu fünf bis fünfzehn sehr nahen Freunden. Wir können viel größere Netzwerke aufrechterhalten, aber nur mit Abstrichen bei der Qualität oder Aufrichtigkeit dieser Verbindungen – die meisten Menschen bewegen sich in viel kleineren sozialen Kreisen.
Einige Kritiker haben Dunbars Schlussfolgerung infrage gestellt und sie als deterministisch und sogar magisch bezeichnet. Dennoch ist seine grundsätzliche Idee intuitiv einsichtig und hat sich durchgesetzt. Betrachten wir allerdings den vorherrschenden Ort des modernen sozialen Lebens – soziale Netzwerke –, so folgt man hier allem Möglichen, nur nicht Dunbars Prämisse. Im digitalen Leben dreht sich alles um die Maximierung der Quantität von Verbindungen, ohne dass die Qualität eine Rolle spielte. Im Internet ist eine Beziehung bedeutungsvoll, wenn sie Ablenkung oder Nutzen bietet, nicht wenn man Geheimnisse preisgibt und Unterstützung anbietet.
Im Internet läuft vieles schief, aber das meiste läuft auf dieses eine Problem hinaus: Wir reden alle ständig miteinander. Bevor es Online-Tools gab, sprachen wir weniger häufig und mit weniger Menschen. Die durchschnittliche Person führte eine Handvoll Gespräche pro Tag, und die größte Gruppe, vor der sie sprach, war vielleicht eine Hochzeitsgesellschaft oder eine Firmenversammlung, höchstens ein paar Hundert Personen. Vielleicht wurde ihre Äußerung aufgezeichnet, aber es gab nur wenige Mechanismen, um sie weltweit zu verstärken.
Online-Medien bieten jedem Menschen Zugang zu Kommunikationskanälen, die früher dem Big Business vorbehalten waren. Beginnend mit dem World Wide Web in den 1990er-Jahren, über nutzergenerierte Inhalte in den Nullerjahren bis hin zu den sozialen Medien in den 2010er-Jahren hat sich die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs verlagert von Medienorganisationen, Regierungen und Unternehmen hin zum Durchschnittsbürger. Endlich konnten Menschen Texte, Bilder, Videos und anderes Material veröffentlichen, ohne vorher die Zustimmung von Verlegern oder Rundfunkanstalten einzuholen. Ideen verbreiteten sich frei über Grenzen hinweg.
Und so bekamen wir auch eine toxische Müllhalde. Die Leichtigkeit, mit der Verbindungen hergestellt werden können – sowie der Umstand, dass es in den sozialen Medien keine Unterscheidung zwischen engen Freunden, Bekannten oder sogar Fremden gibt –, bedeutet, dass jeder Beitrag erfolgreich an die schlimmsten Ängste der Menschen appellieren und normale Leute in Radikale verwandeln kann. So beeinflusste YouTube den Schützen von Christchurch, so mobilisierten Verschwörungstheoretiker die Trump-Anhänger zur Erstürmung des Kapitols. Wenn wir das Alltagsleben betrachten, so sehen wir, wie betrügerische Spam-Nachrichten auf Facebook Ihre Mutter übers Ohr hauen, unbedachte Tweets das Leben von Menschen ruinieren, wie soziale Medien das Leben im Allgemeinen brüchig, schrill und feindselig gemacht haben. Es ist längst an der Zeit, eine grundlegende Prämisse des digitalen Lebens zu hinterfragen: Könnte es sein, dass Menschen gar nicht fähig sind, mit so vielen Leuten so viel und so häufig zu sprechen?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Kann uns die Liebe retten?
Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
Lob der Männlichkeit
Gegenwärtig gilt Männlichkeit oft als die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels. Die Welt, so die Annahme, wäre eine bessere, würde sie von Frauen und femininen Werten bestimmt. Das ist eine fatale Verkürzung.

Daniel Hornuff: „Hass ist eine Technik der Kommunikation“
Bei Debatten über Hass im Netz geht es oft um Sprache. Der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff betont in seinem gleichnamigen Buch jedoch auch die Bedeutung von Hassbildern. Warum diese oft zusammengeschustert aussehen, weshalb man nicht von „Shitstorm“ sprechen sollte und inwiefern sich hier historisch äußerst stabile Muster zeigen, erklärt er im Gespräch.

Wem gehört die Schlossallee?
Ob Privatbesitz der Grund allen Übels oder vielmehr die Voraussetzung der Freiheit ist - darüber war man sich in der Philosophiegeschichte uneins.

„Hate Watching“: Warum sind wir fasziniert von dem, was wir hassen?
Wer kennt das nicht: Eine Realityshow anschauen, obwohl man sie albern findet; einem Filmsternchen in den sozialen Netzwerken folgen, das man verachtet; eine Serie bis zum Ende gucken, obwohl sie einen vor Langeweile gähnen lässt... Warum sind wir derart fasziniert von dem, was wir verabscheuen? Weil wir im Grunde genau das begehren, was wir angeblich hassen, antwortet René Girard.

Die gerechte Gesellschaft
Die Frage nach dem Wesen einer gerechten Gesellschaft führt direkt ins Zentrum unserer Gegenwart. Das zeigt sich bereits daran, wie viele politische Großereignisse der letzten Jahre mit ihr zusammenhängen: die Proteste infolge der Finanzkrise, der Aufstieg des Rechtspopulismus, die #MeToo-Debatte, der Brexit, das Aufkommen der „Gelbwesten“, die Fridays-for-Future-Demonstrationen sowie die jüngsten Diskussionen um Enteignungen. Überall geht es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Der Verteilung von Geld, Eigentum, Macht, Anerkennung und ökologischen Ressourcen.
Woher kommt das Neue?
Es gibt diesen Punkt, an dem das Alte nicht mehr passt. Mit einem Mal werden Gewohnheiten schal, Gewissheiten brüchig, Routinen und Rituale zu eng. Aber was tun, wenn die Sehnsucht nach dem Neuen erwacht, während unklar ist, wo es zu suchen wäre? Wie soll es sich einstellen, das Neue? Woher kann es kommen? Aus uns selbst oder aus dem Nichts? Ist das Neue überhaupt eine Befreiung – oder ein gesellschaftlicher Imperativ im Zeichen des technischen Fortschritts? Bleib up to date! Erfinde dich neu! Sei kreativ! Das sind die Losungen unserer Zeit, deren permanenter Wandel uns zur Anpassung zwingt. Wagen wir also den Sprung ins Ungewisse, um zu finden, was noch nicht da ist.
Die Macht der Metamedien
Nachdem Facebook, Twitter und Co. Donald Trump ins analoge Exil verbannten, inszenierten sich deren Chefs als Retter der Demokratie. Doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Big Tech weiterhin vor allem eines forciert: eine gefährliche Privatisierung der Öffentlichkeit.
