Willkommen im Symbiozän
In unserer vom Digitalen dominierten Kultur nimmt der Tastsinn nur noch nachrangige Bedeutung ein, was uns zunehmend vor Probleme stellt. Wir sollten deshalb Offline-Aktivitäten und neuen Haptotechnologien Raum lassen, meint Richard Kearney.
In Spike Jonzes Science-Fiction-Film Her verliebt sich ein Mann obsessiv in ein Betriebssystem. Er kann an nichts anderes mehr denken und wird über die Maßen eifersüchtig, als er erfährt, dass Samantha (das Betriebssystem) auch mit mehreren Hundert anderen Nutzern flirtet. Schließlich tut er Samantha so leid, dass sie sich entscheidet, ihre digitale Persönlichkeit um einen Leib zu ergänzen, und ihm in Vertretung eine menschliche Liebhaberin schickt. Doch der Liebesakt scheitert: Dem Mann gelingt es nicht, die leibliche Erfahrung mit Samanthas Verkörperung und die digitale Kommunikation mit ihr in Einklang zu bringen. Er hält den Spagat zwischen digitaler Abwesenheit und taktiler Anwesenheit nicht aus. In der Folge verliert er die Verbindung zu sich selbst als körperlichem Wesen und kann sich nur noch zum virtuellen Trugbild in Beziehung setzen. Er wird körperlich handlungsunfähig.
Willkommen im Zeitalter der Entkörperlichung und der postmodernen Paradoxe, die damit einhergehen. Mit der Verbreitung von Internetsex in Chatrooms, Instagram und fortgeschrittenen Simulationstechnologien ist eine Verschiebung in unserem Körperverhältnis zu beobachten. Via Touchscreen ersetzen wir materielle Personen durch immaterielle Profile – Stellvertreter, die unsere Wünsche erfüllen, Alexa und andere Avatare, die für uns agieren, GPS-Stimmen, die uns den Weg weisen, Amazon-Dienstleister, die unsere Aufträge ausführen. Wir müssen uns nicht mehr selbst in Bewegung setzen, um zu bekommen, was wir möchten. Ist es nicht eine große Ironie, dass wir in einer nach Körperbildern süchtigen Kultur – der verspiegelten Fitnessstudios, der Selbstbeschau, des gegenseitiges Auscheckens von Online-Posts, bearbeiteten Fotos und durchgestylten Profilen – den Sinn für körperliche Berührung verloren haben? Platon erzählt die Geschichte von Gyges’ Ring, der diesem die Fähigkeit verliehen habe, sich unsichtbar zu machen – zu sehen, ohne gesehen zu werden. Als ich mit meinen Studierenden darüber diskutierte, fragten wir uns, ob die Vorzüge der digitalen Revolution – die wir alle als immens beurteilten – nicht auch von einer wirklichen Gefahr begleitet seien: nämlich den Kontakt zu uns selbst und zu anderen zu verlieren. Am Ende landeten wir bei der Frage, ob das zweitausendjährige platonische Erbe des Optozentrismus nicht in der gegenwärtigen Kultur des „Spektakulären“ gipfelt – einem digitalen Theater, in dem das Auge alles beherrscht. Läuft man beim Online-Dating nicht Gefahr, zu einem modernen Gyges zu werden, weil man alles nur aus der Distanz betrachtet, ohne wirklich etwas zu berühren oder berührt zu werden? Treten wir nicht in eine „Zivilisation des Bildes“ ein, in der der Bildschirm die ganze Welt darstellt und der Kontakt zur Wirklichkeit verloren geht?
Eine Philosophie des Tastsinns hat bereits Aristoteles in den Anfängen des griechischen Denkens umrissen. Ihm zufolge ist das taktile Fühlen der grundlegendste und intelligenteste der Sinne. Doch seine These blieb zweitausend Jahre lang weitgehend unbeachtet. Dem Platonismus galt das Sehen als dem Fühlen überlegen, da es der Vernunft näher stehe und sich zu den übersinnlichen Ideen erhebe, statt wie das Tasten zu den dunklen Gefühlen des Fleisches herabzusinken. Mit Verweis auf die Etymologie von „anthropos“ („Aufblickender“) erklärte Platon den Menschen zum Betrachter aller Existenz: „Das Wort anthropos enthält, dass der Mensch nicht nur sieht, sondern zu dem, was er sieht, hinaufblickt, daher wird unter allen Tieren er allein zu Recht „anthropos“ genannt, weil er zu dem, was er gesehen hat, hinaufblickt.“ Für Platon erfasst das Auge souverän die Dinge, der fühlende Körper hingegen ist ein wildes Tier, eine Last, etwas Ansteckendes, das man unter Kontrolle halten muss. Das Reine und das Unreine müssen getrennt gehalten werden: „Solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten sein, wenn wir so viel möglich nichts mit dem Leibe zu schaffen noch gemein haben (…) Und so rein der Torheit des Leibes entledigt, werden wir wahrscheinlich mit eben solchen zusammen sein, und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist eben wohl das Wahre. Dem Nichtreinen aber mag Reines zu berühren wohl nicht vergönnt sein.“
Der erste Sinn
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