It’s the platform economy, stupid!
Der identitätspolitische Kampf um Anerkennung prägt einen Großteil zeitgenössischer Debatten. Ausgetragen wird er dabei meist auf Facebook, Twitter und Co. Damit verändert er jedoch seinen Charakter: Er wird zur heißlaufenden Reputationsökonomie, die von Versprechungen lebt, die sie nie einlösen kann.
Die nach dem Kalten Krieg verstärkt aufkommende Forderung nach Anerkennung war nach Meinung des Philosophen Charles Taylor mit modernen Vorstellungen von Identität verknüpft – das Verständnis einer Person davon, wer sie ist und was ihre grundlegenden definierenden Eigenschaften sind. Da unsere Identität teilweise durch die Anerkennung anderer geformt ist, können Menschen wirklichen Schaden erleiden, wenn die Gesellschaft ein entstellendes Bild ihrer selbst widerspiegelt. So können Frauen in patriarchalen Gesellschaften dazu gebracht werden, dass sie ein sexistisches Selbstbild verinnerlichen und unter schmerzhaft niedrigem Selbstwertgefühl leiden. Weiße Herrschaft hat über Generationen ein erniedrigendes Bild von Schwarzen, Indigenen und kolonisierten Völkern projiziert und den Unterdrückten zusätzlich noch lähmende Formen der Selbstherabsetzung aufgebürdet. In dieser Hinsicht war gebührende Anerkennung ein vitales menschliches Bedürfnis. Taylor sah die ungewisse Suche nach Anerkennung in Verbindung mit dem Aufkommen individualisierter Identitäten im 18. Jahrhundert auf der Grundlage eines Konzepts von innerer Authentizität. Mittlerweile hat Axel Honneth in Kampf um Anerkennung (1992) eine Moraltheorie umrissen, in der über politischen Kampf errungene Anerkennung konstitutiv für die Persönlichkeit ist. Nancy Fraser entwickelte, später in kritischem Dialog mit Honneth, eine dualistische Erwiderung, bei der Anerkennung mit einer Umverteilung auf der Suche nach Gleichberechtigung ausbalanciert wird.
Der Zeitpunkt dieser Wende hin zur Anerkennung war bezeichnend. Er fiel mit dem Triumph der kapitalistischen Globalisierung zusammen, als die konzeptuellen Grundlagen von kritischer Theorie und emanzipatorischer Politik angefochten wurden. So wie der Zusammenbruch des Staatssozialismus das Vertrauen in Marxistische Kritik untergrub, so erzeugte auch der folgende Marktuniversalismus einige Skepsis. Aus unterschiedlichen Gründen und auf verschiedene Weise legten Taylor, Honneth und Fraser ihr Augenmerk jeweils auf das kritische Bindeglied zwischen Marxismus und Liberalismus: Hegel. Anerkennung, in ihren konkreten, kulturellen und historischen Spielarten, sollte ein konstitutiver Teil der Gerechtigkeit sein. Die dialogischen Dimensionen der Subjektivität, die von beiden politischen Traditionen heruntergespielt oder ignoriert wurden, würden in der kritischen Theorie und in den radikalen Politikansätzen integriert werden.
Im Zuge der Finanzkrise von 2008 und der nachfolgenden Proteste war die Anerkennungspolitik in aller Munde und ist zu einem Gegenstand bitterer Kontroversen geworden. Sowohl Mitte-Rechts-Intellektuelle wie Francis Fukuyama als auch Neokonservative wie Douglas Murray behaupten, dass die liberal-demokratische Ordnung durch Forderungen nach identitärer Anerkennung destabilisiert würde. Rechte „Post-Liberale“ und kommunitaristische Katholiken attackieren eine linksliberale Fixierung auf die Anerkennung individueller Verletzungen und symbolischer Gewalt zulasten traditioneller moralischer Normen. Populisten werden wiederum von Liberalen beschuldigt, der reaktionären Identitätspolitik zu frönen und eine Politik jenseits von Wahrheit („post-truth politics“) zu produzieren. Und Universitäten wird regelmäßig vorgeworfen, eine moralisch relativistische Ideologie zu unterstützen, in der alle Ansprüche auf Anerkennung gleichermaßen legitim seien.
Oftmals ist die neue Gegenbewegung zur Anerkennungspolitik allerdings selbst in Begriffe der Anerkennung eingebettet. In einem solchen Framing wird die Identitätspolitik angeprangert, den weißen Männern, der Arbeiterklasse oder dem Nationalstaat die Anerkennung zu entziehen, die diesen rechtmäßig zustünde. Der Kampf um Anerkennung hat sich in ein Wettrüsten verwandelt, bei dem mehrheitskulturelle Identitäten zu ihrer Verteidigung die Sprache der Minderheitenrechte einsetzen. Die Anerkennungspolitik hat mehr Eigendynamik erlangt, als irgendwer in den 1990er-Jahren hätte vorhersehen können. Insbesondere die digitale Öffentlichkeit kocht über von Beschuldigungen der Missachtung, nicht alle von ihnen nach gutem Wissen und Gewissen geäußert, und manche davon bewusst als Instrument der Verwirrung benutzt.
Im Folgenden möchte ich auf die explosionsartige Zunahme von Forderungen nach Anerkennung zu sprechen kommen und untersuchen, wie Transformationen in der öffentlichen Sphäre zu Veränderungen in der Art und Weise geführt haben, wie Anerkennung gefordert und entgegengebracht wird. Die Schlüsselbedingung hierbei ist die digitale Plattform, die eine neue Ära öffentlicher Teilhabe eingeleitet hat, in der nie irgendjemand eine adäquate Statusanerkennung erlangt, sodass Ungerechtigkeit als ein allgegenwärtiges Gefühl besteht.
Kritische Theorien der Anerkennung nehmen ihren Ausgang bei der intuitiven Einsicht, dass Missachtung eine Form der moralischen Beschädigung ist, die den Selbstwert und die Fähigkeit zu voller Persönlichkeitsentwicklung untergräbt, jedoch auch den Kampf für Gerechtigkeit motiviert. Honneths ambitionierte Theorie der Gerechtigkeit als Anerkennung bot eine Antwort. Honneth artikulierte drei Sphären, in denen Anerkennung in verschiedener Form zugesprochen wird: in der Familie als Liebe, im Rechtssystem als Recht und in der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit als Wertschätzung und Solidarität. Die Aufgabe des Rechtssystems besteht darin, Gleichheit vor dem Recht herzustellen, die der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit darin, Kulturen, Leistungen und Identitäten auszudifferenzieren. Das bringt uns zu einem der umstrittensten Aspekte der Anerkennungspolitik und dem Kernpunkt der Debatte zwischen Honneth und Fraser. Ist der Markt einfach nur eine von vielen Sphären der Gerechtigkeit, in der für Anerkennung gekämpft wird, wie es Honneth und Boltanski nahegelegt haben?
Was keine der beiden Positionen deutlich erfasst oder antizipiert, ist die Art und Weise, wie der neoliberale Kapitalismus Märkte in zwei Richtungen zugleich einsetzt, indem er sie simultan als einzige rationale Basis für materielle Verteilung geltend macht und indem er die Reichweite marktbasierter Evaluierung in nicht marktwirtschaftlich organisierten Sphären als kulturelle Norm ausdehnt. Jenseits des Marktes – im Bildungsund im Gesundheitswesen, in den Künsten, den Medien und der Zivilgesellschaft – werden Kennzahlen, Ranglisten, Finanzbuchhaltung und neoklassische Ökonomie als Lingua franca der öffentlichen Rechtfertigung forciert. Das dient dazu, Sphären des gesellschaftlichen und kulturellen Austauschs eine marktähnliche Disziplin aufzuerlegen und feste Kennziffern dafür zu etablieren, wie Leistungsungleichheiten zu bewerten sind. Da die öffentliche Sphäre zunehmend um numerische Standards der Beurteilung und Rechtfertigung organisiert wird – Umfragen, Ratings, Punktwertungen –, wächst die potenzielle Reichweite des Marktes. Der Kampf um Anerkennung wird in das Terrain des Berechenbaren geleitet.
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Zu viel Gerede
Die Diskussionen auf Facebook, Twitter und Co. sind oft von Missgunst, Hass und Häme geprägt. Daran werden auch einzelne technische Neuerungen oder sogar die Zerschlagung von Tech-Konzernen nichts ändern. Es hilft nur, an die Wurzel allen Übels zu gehen: Es braucht eine Beschränkung unserer Online-Kontakte.
