Gruppenherrschaft
Kürzlich wurde erneut der Versuch gekippt, Geschlechterparität auf Parteilistenplätzen zu garantieren. Widersprechen Frauenquoten dem liberalen Freiheitsgedanken? Nein, meint Nora Bossong.
Dass Paritätsregelungen und Quoten mit den Funktionsgesetzen einer liberalen Demokratie unvereinbar sind, scheint durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abermals bestätigt worden zu sein. Im freien Wettbewerb der Ideen und Argumente sollen sich schließlich die Kandidaten und Kandidatinnen fürs Parlament durchsetzen, die am besten zu überzeugen verstehen. Wenn hier der Staat mit quotierenden Regelungen eingreift, wird der Wettbewerb verzerrt und schwache Kandidatinnen paternalistisch aufgepäppelt. Selbstbehauptung ist etwas anderes.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Wie sehr ein Mensch Rechte wahrnehmen kann, hängt davon ab, wie viel Raum ihm oder ihr in der Gesellschaft zugestanden wird. Dies entscheiden nicht nur Gesetze, sondern auch subkutane Strukturen, die exkludierend den eigentlich als fair angenommenen Wettbewerb blockieren. So unterschlägt die Behauptung, nur Leistung würde zählen, die auch Unternehmen gegen Quoten in Führungsetagen vorbringen, dass Personalentscheidungen oft von sekundären Gruppenmerkmalen beeinflusst sind. Menschen suchen sich gern andere Menschen zur Zusammenarbeit aus, die ihnen möglichst ähnlich sind. Das kann das Geschlecht, die Hautfarbe oder die Herkunft sein. Was vertraut ist, lässt sich leichter einschätzen, das beruhigt. Verzichtet man auf gegenläufige Maßnahmen, setzt sich diese Gruppenbildung fort, was ein Blick in die Führungsriegen deutscher Großunternehmen unmittelbar zeigt.
Fairer Wettbewerb
In ihrem Essay Die feministische Kritik des Liberalismus fordert die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum folgerichtig, sich von der Idee einer voraussetzungslosen Chancengleichheit zu verabschieden und sich einzugestehen, „dass manche Individuen schon mit vielen Vorteilen, die sie moralisch belanglosen Eigenschaften verdanken, in die Gesellschaft eintreten“. Liberale, die dies mitbedächten, hielten es „nicht nur für vernünftig, sondern auch für moralisch geboten, die Dinge so umzugestalten, dass Individuen nicht die Rolle von Königen und Fürsten spielen können“. Nussbaum rät, hierarchische Gruppenherrschaft mit einzurechnen, wenn es um Chancengleichheit geht.
Wirkt man exkludierenden Strukturen mit staatlichen Mitteln wie einer Quote entgegen, lässt sich das also nicht nur mit liberalen Überzeugungen verbinden – es steht geradezu in ihrer Tradition. Denn schließlich basiert eine liberale Demokratie nicht auf dem Anything-goes-Prinzip, sondern darauf, dass Ordnungsprinzipien strukturelle Bevorzugung und Machtmonopole in ihre Schranken weisen und so den Wettbewerb fair halten: Liberale Überzeugungen und feministische Anliegen treffen sich in der Einsicht, dass der regulatorische Eingriff individuelle Entfaltungsmöglichkeiten allererst hervorbringt.
So wichtig es ist, diese Strukturen zu erkennen und auf sie zu reagieren, zur Generalentschuldigung sollten sie nicht werden. Wenn sich etwa eine gut situierte und gut ausgebildete Frau nach der Geburt eines Kindes vollständig aus dem Berufsleben verabschiedet und vom Kindsvater finanzieren lässt, könnte das nicht nur an den Strukturen liegen, sondern auch an fehlendem Mut zum Konflikt oder einfach an der guten alten Bequemlichkeit. •
Nora Bossong studierte Philosophie und ist Schriftstellerin und Publizistin. Ihr literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr „Schutzzone“ (Suhrkamp, 2019).
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