Harald Welzer: „Man formuliert Ziele, anstatt einfach aufzuhören”
Ein Klimakurs, der Wachstum weiterhin sichert, ist für Harald Welzer der falsche Weg. Ein erlittener Herzinfarkt hat ihn auch existenziell zur Einsicht gebracht: Weniger ist mehr. Der Soziologe über Auswege aus der Steigerungsspirale.
Herr Welzer, am 22. April 2020 erlitten Sie einen Herzinfarkt. Was dachten Sie an diesem Tag?
Als die Ärztin mir sagte: Sie haben gerade einen Herzinfarkt, da dachte ich: Kann gar nicht sein. Im Rettungswagen wurde mir dann klar, dass ich jetzt mein Leben verlieren könnte. Das Komische war, dass diese Erkenntnis mit einem sehr sachlichen Gefühl verbunden war, ein bisschen wie bei einem Insektenforscher. Wir wissen ja alle nicht, wie es ist, wenn man stirbt. Und dann denkt man plötzlich: Wenn es jetzt gleich dunkel wird, dann ist das so.
Kein Film, der abläuft? Nichts, was Sie in dem Moment bereuten, getan oder nicht getan zu haben?
Nein, nichts dergleichen. Plötzlich fiel dann beim Krankenwagen noch das Martinshorn aus, und ich liege da hinten drin und denke: Das ist jetzt auch nicht so gut. Aber eben nicht: O Gott! Mich hat diese Grenzsituation erstaunlich kaltgelassen. Nur das Gespräch mit meinem Sohn hat mich sehr berührt, er war natürlich total schockiert.
Sie schreiben, Sie haben durch dieses Ereignis Ihre Unsterblichkeitsillusion verloren. Wie hat sich Ihr Welt- und Selbstverhältnis dadurch geändert?
Ganz schlicht gesagt: In einer Umsortierung von Wertigkeiten. Ich sage viel öfter als früher: Das mache ich jetzt nicht. Den Termin nehme ich nicht wahr. Da gehe ich nicht hin. Die Verpflichtung ist keine Verpflichtung. Da streichle ich lieber meine Katzen. Das übersetzt sich auch in eine Umsortierung des sozialen Umfelds. Menschen gehen sehr unterschiedlich damit um, wenn einer nahestehenden Person so etwas Existenzielles passiert. Das weiß ich auch durch den Tod meines Vaters, der an Krebs gestorben ist. Auch da gab es im sozialen Umfeld sehr unterschiedliche Reaktionsweisen. Manche können damit überhaupt nicht umgehen, andere wiederum sind empathisch und reagieren völlig adäquat. Mit Ersteren hat man dann weniger oder gar nichts mehr zu tun, mit Letzteren intensiviert sich die Beziehung.
Jetzt, in der Coronakrise, machen wir als Kollektiv die existenzielle Erfahrung, dass das Leben keineswegs so sicher ist, wie wir noch vor zwei Jahren glaubten. Die meisten sind sich der eigenen Verletzlichkeit viel bewusster als vor der Pandemie. Hat das auf gesellschaftlicher Ebene zu vergleichbaren Erfahrungen wie jenen geführt, die Sie individuell gemacht haben?
Ob und wie man die Parallele zu individuellen Erfahrungen ziehen kann, hängt von der Qualität des kollektiven Ereignisses ab. In der ersten Phase der Pandemie haben wir zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt, dass die Ökonomie nicht das Primat hat. Der Grund dafür war die Akutheit des Problems: Wir wissen nicht, um was für ein Virus es sich da handelt. Also sind wir mal sehr vorsichtig und schränken die Mobilität radikal ein. Das hat sich inzwischen verändert. Der jetzige Umgang mit dem Virus ist an Absurdität gar nicht zu überbieten. Bei der Klimathematik ist das ganz anders, weil es diese Akutheit über lange Zeit nicht gegeben hat, und wenn sie dann eintritt, versteht niemand mehr, dass es jetzt wirklich akut ist. Hier haben wir es mit einer ähnlichen Bagatellisierung zu tun wie in meinem Fall im Sprechzimmer der Ärztin und im Grunde auch noch lange danach: Ich doch nicht! Wir doch nicht!
Wir verdrängen die Ernsthaftigkeit der Lage – ähnlich wie Sie Ihren Infarkt?
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